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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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die Hautfarbe kaum eine Rolle. Entscheidend waren physiognomische Merkmale, vor allem die Form der Nase. Seither war die Nase für die meisten systematischen anthropometrischen Projekte wichtig. Da sie bei der Bestimmung der Rassen so zentralwar, genoss sie nun hohes wissenschaftliches Ansehen. Die Daten sind heute bei Nasenoperationen hilfreich, haben aber mit Rassen wenig zu tun. Die Nasen wirklicher Menschen unterscheiden sich oft so sehr von den Parametern ihrer vermeintlichen Rasse, dass sie als Maßstab eigentlich nie taugten, egal wofür. Eigenartig ist, dass Bernier das nicht auffiel, zumal er während seiner Studienzeit in Paris mit Cyrano de Bergerac befreundet war, dessen Nase wohl ein Fall für sich war.
    Die Kategorisierungen verleiteten bald dazu, verschiedenen Nasenformen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben. Phrenologen und Physiognomen zogen aus der Form des Schädels und aus den Gesichtszügen Schlüsse über den Charakter eines Menschen, und manchmal auch aus der Form der Nase. Im 18.

Jahrhundert versuchte der niederländische Anatom Petrus Camper, die Intelligenz eines Menschen am Neigungswinkel seiner Nase abzulesen, da dieser sich zwischen früher Kindheit und Erwachsenenalter verändere. „Viele gehen davon aus, dass Dummheit und ein verlängerter Zinken etwas miteinander zu tun haben“, schrieb Camper. Seinen Messungen zufolge besaßen antike Büsten die vertikalsten Nasen; heutige Europäer, Asiaten und Afrikaner folgten, und zwar in dieser Reihenfolge. Spätere Rassenanthropologen interpretierten Campers Daten als Hinweis auf eine Rangordnung der Rassen, während Camper selbst noch davon ausgegangen war, dass sowohl Schwarze als auch Weiße von Adam und Eva abstammten.
    Der amerikanische Verleger Samuel Wells kategorisierte in seinem phrenologischen Jahrbuch vier Nasenprofile (die Zahl vier erinnerte an frühere Schemata, in denen bestimmte Gesichtszüge mit den vier Säften korrespondierten). Der aus Rochester im US-Bundesstaat New York stammende HNO-Arzt John Orlando Roe entwickelte diese Ideen weiter. In einem Aufsatz definierte Roe 1887 fünf Nasentypen: römisch (ein Zeichen von „Tatkraft und Stärke“), griechisch („Kultiviertheit“), jüdisch („Kaufmannsgeist und Gewinnstreben“), Stups- oder Mopsnase („Schwäche und verschleppte Entwicklung“) und himmlisch. Natürlich war Roe Antisemit – Wellshatte die „jüdische oder syrische Nase“ noch freundlicher mit „Witz, Menschenkenntnis, Weltschläue und vorherrschendem Händlergeist“ in Verbindung gebracht. „Himmlisch“ war Roes eigene Idee. Ich habe nicht die geringste Ahnung, welche Form eine himmlische Nase hat, allerdings erschließt Google Images mir die hilfreiche Information, dass die Schauspielerin Carey Mulligan eine solche besitzt. Roe zufolge hat sie dieselben unattraktiven Eigenschaften wie die Stupsnase, nur kommt noch die „Neugier“ hinzu.
    Es ist klar, warum Roe für diese Typologie Werbung machen wollte. Sein Fachgebiet war die „Korrektur“ von Stupsnasen, und sein innovativer Beitrag waren Operationen durch das Nasenloch, die keine sichtbare Narbe hinterließen. Im Amerika des späten 19.

Jahrhunderts waren Stupsnasen verpönt, weil man sie mit „minderwertigen“ irischen Einwanderern assoziierte. Fünfzig Jahre später wurde im nationalsozialistischen Deutschland die angeblich lange Nase der Juden zum Unding erklärt. In der Nase spiegeln sich die Vorurteile einer Zeit.
    Laurence Sterne ahnte vieles von dem Unsinn der wissenschaftlichen Nasenvermessung und der Einteilung in verschiedene Typen. Tristram Shandy findet in der Bibliothek seines Vaters die Abhandlung eines (fiktiven) Autors namens Prignitz und zitiert zustimmend dessen Ansicht, dass „die menschlichen Nasen, was das Maß und die Bildung des knochigen Teiles anbelangt, in jedem gegebenen Landstrich … ähnlicher untereinander seien, als wir meist annehmen. … Hingegen beruhe aber der Umfang und Ausdruck jeder einzelnen Nase sowie der Rang und die höhere Preiswürdigkeit auf dem knorpeligen und fleischigen Teil …“ Seine satirische Schlussfolgerung lautet, „daß die Vortrefflichkeit einer Nase im direkten arithmetischen Verhältnis steht zur Vortrefflichkeit der Phantasie ihres Besitzers“.
    Die Nase hat in viele Redensarten und Sprichwörter Eingang gefunden. Wir stecken unsere Nase in die Angelegenheiten anderer Leute, wir gehen der Nase nach oder haben die Nase vorn, wir haben eine gute Nase, und manchmal

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