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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Faktoren wie die Form der Hand oder des Ohrs oder das Reflexionsvermögen der Haut dazu, vielleicht auch unsere Stimme, unser Gang oder die Art, wie wir Tasten drücken. Aber der wirklich allgemein anerkannte Identitätsnachweis ist das Foto unseres Gesichts. Jeder Identitätsnachweis ist eine unbefriedigende und manchmal auch kränkende Vereinfachung unseres komplexen Selbst. Aber ein Foto ist weniger kontrovers als andere, technisch abstraktere Methoden, denn immerhin können wir uns darauf auch selbst sehen – freilich auf eine ganz bestimmte Weise. In Großbritannien gilt die Regel, dass der Gesichtsausdruck „neutral und der Mund geschlossen“ sein muss: „Kein Grinsen, keine Unmutsbekundung, keine hochgezogenen Augenbrauen.“ Mit anderen Worten, keine Clownereien.
    Der Kopf steht vor allem dann für den ganzen Menschen, wenn er auf einer Stange steckt. Dann merkt jeder, dass der Körper nicht mehr da ist. Der tote Kopf dient dem Sieger als Trophäe und als Mittel der Abschreckung. Der verwitterte Kopf Oliver Cromwells stand über 20 Jahre lang als Warnung an alle, die mit dem Gedanken an die Abschaffung der Monarchie spielten, vor Westminster Hall, bis die ihn tragende Stange in einem Sturm zerbrach, woraufhin er von einigen selbst ernannten Wächtern gehütet worden ist, bevor er schließlich auf dem Gelände seines alten Colleges in Cambridge begraben wurde, in jener Stadt, die er als Abgeordneter im Parlament vertreten hatte. Das war 300 Jahre nach seiner posthumen Exekution, nämlich 1960.
    Der Kopf wird manchmal als greifbarer Identitätsbeweis aufbewahrt, manchmal aber auch aus dem Aberglauben heraus, dass er nach dem Tod noch die Seele beherbergt. Diese Annahme wurde auf unwahrscheinliche Art und Weise getestet, nachdem der verurteilte Verbrecher Henri Languille am 28.

Juni 1905 in Orléans guillotiniert worden war. Ein neugieriger Arzt, Gabriel Beaurieux, griff sich den Kopf, nachdem er von der Guillotine fiel. Zuerst zuckten Augenlider und Lippen fünf oder sechs Sekunden lang, wie es meistens der Fall ist. Danach entspannte sich das Gesicht des Mannes, und seine Augen rollten nach oben. Dann tat der Doktor etwas Unerhörtes: Er sprach den Mann mit seinem Namen an und sah, wie die Augenlider sich hoben und Languilles Augen „sich an meine hefteten und mich fokussierten“. Die Augen schlossen sich wiederum, Beaurieux rief noch einmal den Namen und beobachtete dieselbe Reaktion. „Es handelte sich nicht um den wässrigen, dumpfen und ausdruckslosen Blick eines Sterbenden. Hier schauten mich zweifellos lebende Augen an.“ Die Medizin geht heute davon aus, dass ein abgetrennter Kopf so lange eine bewusste Wahrnehmung hat, bis der Blutdruck sinkt und das Gehirn wegen Sauerstoffmangels ausfällt. Und das kann in der Tat einige Sekunden dauern.
    Im viktorianischen Chaos des Oxforder Pitt Rivers Museums schaue ich mir die Menschenköpfe an, die geschrumpft und dadurch konserviert wurden. Die Ausstellungsvitrine trägt die Aufschrift: „Was man mit toten Feinden tut.“ Um meinen Schock abzufedern, erinnert mich ein Schildchen daran, dass das Abtrennen feindlicher Köpfe in vielen Kulturen, auch unserer eigenen, „eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Gewalt“ war. Die Schrumpfköpfe oder tsantsas haben einen Durchmesser von sieben oder acht Zentimetern und wirken hart, ledrig und geheimnisvoll nachgedunkelt. Einige haben noch viele Haare, andere sind mit Bändern geschmückt. Sie wurden vom Stamm der Shuar am Oberlauf des Amazonas in Ecuador und Peru hergestellt. Die Shuar glauben, dass es nur eine begrenzte Zahl von Körpern gibt. Der abgetrennte Kopf eines Feindes symbolisiert, dass die eigenen Ahnen nun in einem neuen Körper wohnen können. War der Feind ein naher Blutsverwandter, wurde der Kopf nicht als Trophäe abgenommen, man gab sich mit einem Tierkopf als Ersatz zufrieden. Im Pitt Rivers befinden sich einige dieser mehr oder weniger menschenähnlichen Wesen, darunter Affen und Faultiere. Wie die Europäer glauben die Shuar, dass ein Teil der Seele im Kopf sitzt. Indem man einen Feindeskopf schrumpft, will man dessen Seele besänftigen.
    Wollen Sie wissen, wie man einen Schrumpfkopf herstellt? Entfernen Sie zunächst sorgfältig die Haut vom Schädel, indem Sie sie vom Genick an aufwärts aufschlitzen. Nehmen Sie Schädel, Gehirn und andere Teile heraus. Nähen sie den Schlitz wieder zu, und nähen Sie dann auch Augen und Mund zusammen, damit die Gesichtsform erhalten bleibt.

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