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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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bei seinem Gang durch St. Petersburg und sicher auch vonseiten des Lesers an Gelächter entgegenschlägt, wird durch den Gedanken an das lächerlichste Gesichtsanhängsel noch verstärkt. Die Statusangst des Kollegienassessors führt dazu, dass er zwar nach eigener Aussage keine Beleidigung persönlich nimmt, Rang und Titel aber große Bedeutung beimisst. Sobald sein Gesichtserker wieder da ist, erlangt er sein Selbst- und Standesbewusstsein wieder. Nach einem Versöhnungsbesuch beim Barbier beobachtet er in einer Konditorei „mit spöttischer Miene und leicht zusammengekniffenen Augen zwei Soldaten, von denen der eine eine Nase hatte, die keinesfalls größer war als ein Westenknopf“.
    Die vorübergehende Autonomie von Kowaljows Nase ist eine spielerische Vorstudie zu Gogols unvollendetem Meisterwerk Die toten Seelen, in dem es um den illegalen Handel mit Leibeigenen geht, die nur aus Steuergründen „weiterleben“, obwohl sie eigentlich schon tot sind. In dieser Welt erhält die Frage, inwiefern ein Mensch einen anderen ganz oder teilweise besitzen kann, satirische Schärfe. Am Ende der Nase gibt der Erzähler zu: „Solch eine Geschichte also hat sich in der nördlichen Hauptstadt unseres weiten Reiches zugetragen! Erst jetzt, unter Erwägung aller Umstände, sehen wir, daß sie vielerlei Unwahrscheinlichkeiten enthält.“ Aber andererseits: „Da kann man sagen, was man will“, solche Vorkommnisse, die dem Vaterland zudem keinerlei Nutzen bringen, „gibt es auf der Welt, selten, doch es gibt sie“. Wir sollen davon ausgehen, dass die Distanzierung einer Nase von ihrem Gesicht keineswegs das Wunderlichste sei, was einem russischen Bürger passieren kann. Die Geschichte brachte Gogol zum ersten (und nicht zum letzten) Mal in Konflikt mit dem Zensor, weil er die Absurdität jenes auf Rang, Privilegien und Patronage beruhenden Systems offenlegte, auf das der Staat sich stützte. Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass Gogol selbst eine ungeheuer große Nase besaß.
    Was auffällt, will etwas bedeuten. Nasengrößen und -formen wurden immer schon interpretiert – und belacht. Rabelais’ Gargantua fragt, warum Bruder Jean einen so edlen Zinken besitze. Der Mönch antwortet: „Weil’s dem lieben Gott so gefallen hat, der uns alle nach seinem göttlichen Willen bereitet und formt wie ein Töpfer sein Geschirr.“ Aber Ponokrates spekuliert weiter: „Weil er der erste auf dem Nasenmarkt war und sich die größte und schönste aussuchen konnte.“ Jean selbst gibt an, sie sei aufgegangen „wieTeig im Backtrog“, weil seine Amme weiche Brüste hatte. „Von den harten Brüsten der Ammen werden Kinder plattnasig.“ Und Gargantua beschließt das Gespräch mit der deftigen Bemerkung, dass man aus der Nase eines Mannes auf seinen Zu dir erheb ich mich schließen kann. Tristram Shandy, der Titelheld von Laurence Sternes gleichnamigem Roman aus dem 18.

Jahrhundert, erzählt traurig von der ganzen Reihe kurzer Nasen in seiner Familie. Sein Großvater habe, was Frauen angeht, wenig Auswahl gehabt, denn seine Nase sei sehr knapp bemessen gewesen. Man muss nicht Sigmund Freud sein, um zu verstehen, dass die Nase ein Symbol für jenen anderen herausragenden Körperteil ist, den Penis. Auch das klingt in Gogols Kurzgeschichte an. Sobald Kowaljows Nase wieder an ihrem Platz ist, fühlt er sich auch in anderer Hinsicht belebt und vitalisiert und denkt weniger ans Heiraten denn an Sex.
    Nasen haben auch die Aufmerksamkeit der Männer mit den Zentimetermaßen und Winkelmessern erregt. Lange bevor es Mode wurde, versuchte der Arzt und Reisende François Bernier, die Menschheit nach Rassen zu klassifizieren. Über seine zwölf Jahre dauernde Reise durch Ägypten und den Mittleren Osten bis an den Hof des indischen Großmoguls schrieb er einen ausführlichen Bericht. Nach seiner Rückkehr nannte man ihn in den Pariser Salons „Bernier Grand Mogol“, doch auf die Frage König Ludwigs XIV., welches Land ihm am besten gefallen habe, antwortete er angeblich: die Schweiz. Anonym veröffentlichte er 1684 sein wissenschaftliches Werk „Eine neue Einteilung der Erde nach den verschiedenen Arten oder Rassen der Menschen, welche sie bewohnen“. Die Menschheit teilte er in vier Völkergruppen ein: Lappländer, Schwarzafrikaner, Zentral- und Ostasiaten sowie eine riesige Gruppe, zu der Europäer, Nordafrikaner, Bewohner des Mittleren Ostens und Südasiens sowie die Ureinwohner Amerikas gehörten. Für die Klassifikation spielte

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