Anatomien
sagt ihre taktlose Mutter im Nachhinein, das „einzig Schöne“ verloren. Jo antwortet, nun werde sie vielleicht nicht mehr so eitel sein. Sie sei doch ohnehin viel zu stolz auf ihre Haare gewesen. Im Gegensatz zur Autorin heiratet Jo, allerdings kommt sie nicht mit einem konventionell gut aussehenden Mann zusammen, sondern mit dem untersetzten, ausländischen, nicht mehr ganz jungen Professor Bhaer – ein Lehrstück in Sachen sexueller Selektion. Mit ihrem Haar verliert das Bauernmädchen Marty South auch ihre Aussicht auf eine Heirat mit Giles Winterborne, der, ganz nach Hardys Geschmack, an der „Blöße“ stirbt. Dabei hatte er, als sich die geschorene Marty über Kopfschmerzen beklagte, noch vermutet, dass ihr Kopf nun wohl zu kalt sei. Fantine schließlich tröstet sich damit, dass sie im Tausch für ihre Haare immerhin die Wärme ihres Kindes erhalten habe.
Gesicht
Während die Wissenschaft 1859 über Charles Darwins Entstehung der Arten stritt, begann sein unermüdlicher Cousin Francis Galton damit, die Schönheit auf den britischen Inseln systematisch zu untersuchen. Am Ende dieses Projekts erklärte er, die jungen Londonerinnen seien die schönsten, die jungen Frauen in Aberdeen die hässlichsten.
Wie kam er darauf? Wie wir gesehen haben, war Galton ein Mann des Lineals. Im Laufe seiner langen Karriere versuchte er, die Anzahl der Pinselstriche zu bestimmen, die für ein Gemälde nötig sind, die Maße einer perfekten Teekanne und die Effizienz eines Gebets (seine Erhebung ergab, dass Kleriker nicht länger leben als andere, allerdings hatte er sie auch gar nicht gefragt, wofür sie eigentlich beteten). Zu Beginn der Datensammlung für die von ihm so bezeichnete „Schönheitskarte“ schnitt er sich ein Blatt Papier kreuzförmig zurecht. Mithilfe einer auf einen Fingerhut gesteckten Nadel stach er Löcher in das Blatt, um festzuhalten, „wie viele Mädchen auf der Straße oder andernorts attraktiv, neutral oder abstoßend“ waren. Die Löcher für die attraktiven waren oben, die neutralen auf dem Querbalken des Kreuzes und die für die hässlichen Mädchen unten. Der Vorteil war, dass er die verschiedenen Teile in seiner Tasche erspüren und seine so unviktorianischen Beobachtungen der weiblichen Stadtbevölkerung unbemerkt festhalten konnte. „Natürlich waren das rein individuelle Einschätzungen“, gab Dalton in seinen Memoiren zu. Aber nachdrücklich verteidigte er seine wissenschaftliche Methode als „konsistent, da mehrere Versuche bei der jeweils gleichen Bevölkerungsgruppe ähnliche Ergebnisse lieferten“. Das Projekt blieb unvollendet. Vielleicht war die vollständige statistische Erfassung aller britischen Mädchen selbst für Galton zu viel.
Er führte die Untersuchung nicht aus Spaß durch (und auch nicht, wie die „Schönheitsumfragen“ heutiger Kosmetikkonzerne, aus geschäftlichen Gründen). Sie sollten der Verbesserung der Menschheit den Weg bereiten. Darwin hatte sich in der Entstehung der Arten über die Entwicklung von Haustieren Gedanken gemacht, und das entfachte Galtons Interesse an Variationen beim Menschen. Galton prägte dafür 1883 den ominösen Begriff Eugenik, aber der Wunschtraum, die Reichen, Intelligenten und Fruchtbaren sollten die britische Rasse qualitativ aufbessern, war nicht auf modernes naturwissenschaftliches Vokabular angewiesen. Galton bemerkte: „Noch vor nicht allzu langer Zeit war es in England ganz natürlich, dass der Sieger eines Turniers die schönste und edelste Frau erringen sollte. Außerordentliches ließe sich erreichen, wenn innerhalb unserer Rasse diejenigen miteinander verheiratet würden, die die besten geistigen, moralischen und körperlichen Eigenschaften besitzen!“
Bevor die Fortpflanzung beginnen könnte, müsste allerdings einiges ausgemessen werden. Das war Galtons Lieblingsbeschäftigung und der Hauptgrund für seine Beschäftigung mit schönen jungen Damen. Das Wesen der Schönheit suchte er nicht nur während seiner Feldstudien auf britischen Straßen, sondern auch mithilfe anderer Analysen. Unter anderem setzte er die neue Technologie der Fotografie ein, um innerhalb einer Bevölkerungsgruppe gemeinsame Gesichtsmerkmale zu identifizieren. Er versuchte es mit „zusammengesetzter Fotografie“, bei der er durchsichtige Porträtfotos in der Hoffnung übereinanderlegte, das verschwommene Gesamtbild würde einen repräsentativen Durchschnitt ergeben. Er kam nicht weit, und so versuchte er es Jahre später mit dem
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