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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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stecken wir die Nase in den Wind. Aber auch andere äußere und innere Körperteile sind sprichwörtlich. Wir machen uns einen Kopf und werfen ein Auge auf jemanden. Die Passage über die sieben Lebensalter aus Shakespeares Wie es euch gefällt könnten wir so umschreiben, dass jedem Lebensalter ein Körperteil entspricht. Die Haut eines Neugeborenen ist so weich wie ein Kinderpopo. In der Kindheit beißen wir uns die Zähne aus, in der Jugend verlieben wir uns Hals über Kopf. Der Soldat ist bis an die Zähne bewaffnet und kämpft mit Zähnen und Klauen. Der berühmte Wissenschaftler kniet sich in ein Problem, und nach der Pensionierung fällt ihm eine Last von den Schultern. Am Ende liegt er in den letzten Zügen. Auch der Idealmensch, der uns früher schon begegnet ist, lässt sich von Kopf bis Fuß beschreiben. Er ist ganz Ohr, hat einen grünen Daumen, redet frei von der Leber weg, greift uns unter die Arme und steht mit beiden Beinen auf dem Boden. Seinem unglücklichen Widerpart rinnt dagegen das Geld durch die Finger, obwohl er den Hals nicht voll kriegen kann, weshalb er sich die Haare rauft.
    Viele dieser Redensarten – aber nicht alle – sind sprachspezifisch. Auch die Franzosen haben Schmetterlinge im Bauch und einen Floh im Ohr. Auch ihnen geht vieles auf die Nerven. Engländer und Italiener füßeln unter dem Tisch („play footsie“, „far piedino“). Andere Ausdrücke sind nicht ganz identisch: Ein Leckermaul hat einen „sweet tooth“ oder eine „bouche sucrée“ (einen Zuckermund). Dem Deutschen geht etwas an die Nieren, die Briten fühlen es „in the gut“, also im Darm. Dann gibt es Hyperonyme und Hyponyme, also Wendungen, bei denen ein Ober- oder Unterbegriff einen anderen Begriff ersetzt. Engländer kennen den langen Arm des Gesetzes, Tschechen haben lange Finger. Die Deutschen fallen auf die Nase, die Engländer flach aufs Gesicht. Ein Körperteil kann auch pars pro toto für den ganzen Menschen stehen. Jemand ist ein Superhirn, eine Seele von Mensch oder ein Arschloch. Sprachen durchstreifen den Körper wie ein Suchtrupp, wenn sie neue Ideen brauchen: Wenn etwas sehr teuer ist, kostet es einen Engländer einen Arm und ein Bein, einen Franzosen aber die Augen. Was wir über den Daumen peilen, ist für die Franzosen „une vue de nez“. Aus derselben Körperfunktion können verschiedenste Redensarten hervorgehen: Nach der Geburt ist man „noch feucht (oder grün) hinter den Ohren“, und zwar auch in England, aber ein französischer Einfaltspinsel ist „encore bleu“ (noch blau), und einem italienischen tropft die Nase. Kaum ein solches Idiom ist auf eine einzige Sprache beschränkt.
    Es gibt allerdings Ausnahmen. Die deutsche Sprache hat eine Vorliebe für die inneren Organe. Wenn mir eine Laus über die Leber läuft, bin ich schlecht gelaunt. Wer einen Spleen (das engl. Wort spleen bedeutet Milz) hat, hat einen Tick. Im Hebräischen wurde einer, den man nicht auf den Arm nehmen sollte, „nicht mit dem Finger erschaffen“. Zwei Freunde – ein Herz und eine Seele – sind in Spanien wie Nagel und Fleisch („uña y carne“). In allen Sprachen kommen ständig neue Ausdrücke hinzu. Im Englischen gibt es heutzutage „eye candy“, „a bad hair day“ (einen Tag, an dem man durcheinander ist) und inzwischen auch den Arsch der Welt. Einige Redewendungen sind aber so alt, dass sie uns heute in die Irre führen. Wer „wider den Stachel löckt“, tut nichts mit der Zunge, sondern er schlägt gegen ein Joch aus, das ihn unterdrückt.
    Einige Ausdrücke sind ziemlich kreativ, aber die meisten liegen auf der Hand. Der Körper ist die vertrauteste Quelle linguistischer Inspiration. Seine Teile und die entsprechenden Worte sind zur Hand, sie liegen uns auf der Zunge. Diese Ausdrücke stammen nicht von großen Autoren, doch haben wir anhand von Shakespeares Werken festgestellt, dass einige besonders erfindungsreiche sehr wohl aus literarischen Texten stammen und von dort in die Alltagssprache eingegangen sind. Viele sind offensichtlich, kaum als Vergleich erkennbar, sie bauen einfach eine ganz normale Beobachtung ein kleines bisschen weiter aus. Das macht sie unwiderstehlich. Rabelais, Cervantes und Shakespeare – für sie waren Körpersprichwörter das Natürlichste von der Welt.
    Lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen: Menschen haben so viele Haare wie Schimpansen. Nur ist unseres dünner, kürzer und meist heller, sodass wir uns Nacktaffen nennen dürfen. Was ja auch nicht

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