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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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schlimm ist. Viele Tiere verbringen so viel Zeit damit, sich selbst und die Artgenossen zu frisieren, dass wir uns nie wieder darüber beschweren dürften, wie oft unser Partner oder unsere Partnerin zum Friseur geht. Und immerhin haben wir die „Frisur“ überhaupt erst erfunden.
    Unsere Haare sind so natürlich wie kultiviert. Wie alt ein Film ist, erkennen wir oft an den Frisuren. Wir entscheiden selbst, welche Haare wir schneiden, rasieren oder auszupfen und welche wir wachsen lassen und in welche Form wir sie bringen. Aber diese Entscheidung wird durch Traditionen und Moden beeinflusst. Das gilt zum einen für die Körperbehaarung: Ob wir uns die Achselhöhlen, Beine oder Schamhaare rasieren, ist eine Frage des individuellen und kollektiven Geschmacks. Für die Kopfhaare gilt das erst recht.
    Unsere Körperhaare und besonders die eigenartigen Büschel an den Stellen, wo die Gliedmaßen am Rumpf ansetzen, sind Überreste eines Fells. Aber die Haare auf unserem Kopf sind für Evolutionsbiologen verwirrend. Vielleicht haben sie die Funktion, unsere großen Gehirne zu beschützen, quasi wie Dachschindeln. Oder sie sind eine evolutionäre Extravaganz wie der Pfauenschwanz und spielen vor allem bei der Partnerfindung eine Rolle. Das scheint der Realität ziemlich nahe zu kommen. Sogar der Reformator Martin Luther ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, die Haare seien der reichste Schmuck der Frauen.
    Haare stehen bei Männern für Stärke, bei Frauen für Schönheit und bei beiden für Fruchtbarkeit. Aus der Tatsache, dass man es abschneiden und wieder wachsen lassen kann, sind schon viele Geschichten hervorgegangen, man denke nur an Samson, Rapunzel, Sinéad O’Connor und Britney Spears. Die Haare korrespondieren mit unseren Tugenden. In moralischen Geschichten begehen die Figuren häufig den Fehler, ihre Haare zu sehr zu lieben. „Gott gabmir wenig Stärke, und das zeigte er, / Indem er mir auch keine Haare gab“, klagt Samson Agonistes in Miltons Gedicht.
    Wenn Männer zu viele Haare haben, wirken sie zottig wie ein Bär. Frauenhaare werden fülliger. Die Haare zu verbergen gilt bei Frauen als Zeichen der Keuschheit. Stecken sie die Haare hoch, suchen sie wohl einen Mann. Lange Haare stehen für Zügellosigkeit. Botticellis Venus, die Loreley, Rusalka, Mélisande, Maria Magdalena und La Belle Dame Sans Merci haben alle lange Haare. Der allegorischen Figur der Gelegenheit hängt eine Locke über die Stirn. Cherchez la femme … Ungekämmte Haare sind noch gefährlicher. Die Haare sind eine Falle wie ein Spinnennetz, in dem sich die Männer verfangen. In Alexander Popes pseudo-heroischem Gedicht The Rape of the Lock (Der Lockenraub) trägt die Heldin Belinda das Haar in „verworrenen Locken“. Und Simone de Beauvoir schrieb über Brigitte Bardot: „Die langen, lustvollen Locken der Mélisande fließen über ihre Schultern, aber ihre Frisur sieht verwahrlost und verkommen aus.“
    Mit geschnittenen Haaren passiert etwas Eigenartiges. Der tote und trotzdem untote Auswuchs unserer Körper wird zum Fetisch und zur Phobie. Trichophobie, der Ekel vor einzelnen Haaren, zum Beispiel auf Kleidungsstücken oder im Abfluss der Badewanne, ist eine der am weitesten verbreiteten Phobien. Sie ist Ausdruck unserer Angst vor der Verstrickung und vor dem Verwerflichen. Haare gehören wie Fingernägel, Spucke und Kot nicht mehr zu dem Körper, der sie hervorgebracht hat. Und doch bewahren wir die Locke unserer Geliebten auf oder tragen sogar die Haare eines anderen Menschen. Die Sängerin Jamelia ließ sich die Haare verlängern, um sich wie eine Comic-Heldin von der „gestressten Mutter zweier Kinder in einen Popstar“ zu verwandeln. Mit einem Fernsehteam der BBC ging sie irgendwann auf die Suche nach der Quelle ihrer Haare. DNA-Analysen führten sie nach Indien. Dort stieß sie auf Frauen und Kinder, deren Köpfe angeblich während einer religiösen Zeremonie rasiert wurden, nur dass man die Haare später in den Westen verkaufte. Einen Markt für Haare gab es schon vor unsererglobalisierten Zeit. Die Romanfiguren Jo March in Louisa May Alcotts Little Women und Marty South in Thomas Hardys The Woodlanders verkaufen ihre Haare, während die arme Fantine in Victor Hugos Les Misérables sogar ihre beiden Vorderzähne verkaufen muss. Jo erhält fünfundzwanzig Dollar, Marty zwei Sovereigns und Fantine vierzig Franc – gutes Geld also.
    Die Folgen des Haarverlusts sind wiederum evolutionsbiologisch gut zu erklären. Jo habe, so

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