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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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und besonders was Gewicht, Form, Größe, Ordnung, Zahlen, aber auch Kausalität und Vergleich angehe, gut ausgestattet sei. Das erkläre seine Fähigkeit, Ursachen und Wirkungen zu verstehen und Analogien, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu entdecken. Ich bin mir nicht sicher, ob Analysen von Einsteins Gehirn, die die Besonderheiten seiner „für das visuell-räumliche und das mathematische Denken“ wichtigen Schädellappen feststellen, wirklich mehr wert sind.
    Die Phrenologie ist insofern interessant, als sie ernsthafte Anhänger und das gesamte Drumherum einer echten Wissenschaft besaß. Es gab Zeitschriften, Gesellschaften und Konferenzen, während sie zugleich von anderen Wissenschaftlern als Quacksalberei verurteilt, in Theaterstücken und Zeitschriften lächerlich gemacht und von einer skeptischen Öffentlichkeit ausgelacht wurde. Der bekannte Karikaturist George Cruikshank erlaubte sich einen Spaß, indem er Spurzheims Kategorie „Anhänglichkeit“, also die Fähigkeit, Freundschaften zu schließen, mit dem Bild eines Paares illustrierte, das knietief im Schlamm steckt. Andere dachten sich Hirnorgane zu den aberwitzigsten Spezialfähigkeiten aus, zum Beispiel „das Talent, eine Tilbury-Kutsche zu fahren“. Keine andere Wissenschaft führte auch nur im Ansatz ein solches Doppelleben wie die Phrenologie in ihrer über einhundertjährigen Geschichte.
    Die Stärke der Phrenologie lag in ihrem Versprechen. Die moralischen Qualitäten eines Menschen sollten sich auf dem beinahe lächerlich einfachen Wege der Kopfvermessung erkennen lassen. Je nach den Bedürfnissen seiner Kunden konnte sich ein geschäftstüchtiger Phrenologe als Proto-Psychoanalytiker, Karriere- oder Personalberater und sogar als Partnervermittler betätigen.
    Kritiker betonen dagegen die Schwächen der Methode, zum Beispiel die offenbar willkürliche Anzahl von Gehirnorganen und deren austauschbare und widersprüchliche Eigenschaften. Sie verwiesen gern auf Voltaires Kopf. Offenbar hatte „dieser hochberühmte Ungläubige, der rabiateste und unversöhnlichste Feind des Christentums“, ein unwahrscheinlich großes Religionsorgan. Doch warum, wenn er es nie benutzte? Die Phrenologie gab sich nicht geschlagen. 1825 schrieb ein Phrenologe, das Beispiel bestätige sogar die Leistungsfähigkeit der Methode, da der Franzose zwar nicht Gott, aber doch den französischen Hof, von dem er sich Unterstützung erhoffte, inbrünstig verehrt habe.
    Wir haben schon gesehen, dass Thomas Edison 1896 bei dem Versuch gescheitert war, für William Randolph Hearst das Röntgenbild eines Gehirns herzustellen. Die ersten mehr oder weniger guten Röntgenbilder eines Gehirns entstanden 1918, als man Luft in die Höhlungen des Gehirns leitete, um den Kontrast mit dem umliegenden Gewebe zu schärfen. Eine praktische Technik, mit der man ins Innere des Gehirns schauen konnte, gibt es erst seit den 1970ern. Was zeigt sie uns? Den Sitz jener Fähigkeiten, die uns von den Tieren unterscheiden?
    Wissenschaftler bezeichnen das Gehirn gern als das komplexeste Organ des menschlichen Körpers. Man sieht es ihm nicht an. Es ist weniger abwechslungsreich als das Herz und weniger kleinteilig als die Lunge. Wer es in einem medizinischen Museum in kleine Scheiben geschnitten und zur leichteren Betrachtung auf Glasscheiben gelegt vor sich hat, sieht etwas Weißes und Opakes – auch wie es funktioniert, bleibt undurchsichtig. Vielleicht entspringt der Wunsch nach Komplexität bloß unserer Eitelkeit?
    Aber schon Hippokrates hat entdeckt, dass das Gehirn nicht einfach eine schlaffe Masse ist. Ungefähr 400 v. Chr. schrieb er, wahrscheinlich auf der Basis seiner Untersuchungen auf dem Schlachtfeld verletzter griechischer Soldaten, sein Buch Über die Kopfverletzungen. Er bemerkte zum Beispiel, dass Verletzungen auf der einen Seite des Gehirns Krämpfe auf der entgegengesetzten Körperseite auslösten. Galen wollte später den Sitz der Seele im Gehirn lokalisieren und behauptete, verschiedene Teile des Gehirns seien für bestimmte Körperfunktionen zuständig. Mittelalterliche Denker wie der persische Gelehrte Avicenna vermuteten, dass die vier Höhlungen des Gehirns, in denen sich die Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit befindet, der Speicherplatz für Bilder und Ideen seien oder der Sitz von Wahrnehmung, Vorstellungskraft, Urteilsvermögen und Gedächtnis. Sehr viel später ging Descartes davon aus, dass er die Seele in der Zirbeldrüse unterhalb des Gehirns lokalisiert habe. Die

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