Anatomien
Phrenologen haben die Wissenschaft zwar nicht wirklich vorangebracht, aber auch sie waren überzeugt, dass das Gehirn keine homogene, ganzheitliche Funktionseinheit ist, sondern ein Organ mit voneinander abgrenzbaren Bestandteilen. Mit der Entwicklung neuer Methoden zur Untersuchung und Darstellung des Gehirns erhielt diese Überzeugung weiteren Auftrieb.
Die Methoden sind oft brutal. Wie schon zu Hippokrates’ Zeiten ist der Krieg der Vater der Wissenschaft. Im russisch-japanischen Krieg gelang es einem Augenarzt namens Tatsuji Inouye, den visuellen Kortex sehr viel besser als bisher zu verstehen, nachdem er Schusswunden im Hinterhauptslappen untersucht hatte. Er profitierte davon, dass die Russen neue Gewehre verwendeten, deren Kugeln tiefer eindrangen, die umliegenden Regionen aber weniger schwer verletzten als frühere Waffen. Britische Neurologen machten Fortschritte bei der Erforschung des Hinterhauptslappens, weil die von britischen Soldaten getragenen Helme in diesem Bereich so wenig Schutz boten. (Die Phrenologen hatten sich anscheinend überhaupt nicht vorstellen können, dass der Sehsinn nicht direkt hinter dem Auge, sondern in einem Bereich angesiedelt war, den sie eigentlich mit Liebe und Freundschaft in Verbindung brachten.)
In späteren Studien beobachtete der aus Amerika stammende Neurochirurg Wilder Penfield in Montreal, wie Epilepsiepatienten, die bei Bewusstsein waren, auf die Stimulation ihres Gehirns durch Elektroden reagierten. Penfield wollte herausfinden, wo er operieren musste, wenn er Krämpfe in bestimmten Körperregionen verhindern wollte. Letztlich erarbeitete er so eine neue Karte des Gehirns. Er hatte die geniale Idee, seine Erkenntnisse 1937 mit Unterstützung einer Künstlerin zu veröffentlichen. Mrs. H.
P. Cantile zeichnete einen „kortikalen Homunkulus“; seine Größenverhältnisse sollten den Volumenverhältnissen der zur Kontrolle der jeweiligen Funktionen verantwortlichen Hirnregionen entsprechen. Leider sah die Zeichnung mit ihren im Verhältnis zu Gliedmaßen und Rumpf riesigen Fingern, Händen und Füßen in etwa so aus wie ein überfahrener Frosch. Einleuchtender und zeitloser ist eine später von Penfield veröffentlichte Version, auf der die Sinnes- und Bewegungsorgane in direkter Nähe zu den von der Seite dargestellten Gehirnhälften zu sehen sind. Lippen und Daumen fallen besonders ins Auge. Aus dieser erstaunlichen Darstellung sind immer groteskere Varianten hervorgegangen. Ihre Vorgänger besitzt sie in der mittelalterlichen Vorstellung von einem Homunculus, einem „kleinen Menschen“, den die Alchimisten und Zauberer beschwören können und der vielleicht auch den rankenartigen Drachen und Monstern mit langen Fingern und Klumpfüßen, die wir aus Alpträumen und Comics kennen, Pate stand.
Tatsächliche Aufnahmen des Gehirns sind das Ergebnis einer anderen Zauberkunst. Ihr Geheimnis ist die Magnetresonanz, ein so bedeutsames Phänomen, dass seine Entdeckung und Nutzung inzwischen schon sechsmal mit dem Nobelpreis geehrt wurden: dreimal in Physik, zweimal in Chemie und zuletzt 2003 in Medizin undPhysiologie für die Anwendung in einem bildgebenden Verfahren namens Magnetresonanztomografie (MRT).
Vor einem Vierteljahrhundert ließ ich mir das Gehirn scannen. Im Frühling 1988 war das Verfahren gerade erst zugelassen worden. Damals nannte man die Technik noch nukleare Magnetresonanztomografie, obwohl das Wort „nuklear“ nicht gerade Vertrauen erweckte. Ich war nicht als Patient unterwegs, sondern als Autor einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift.
Kurz nach meiner Ankunft im Medical Center in Albany, der Hauptstadt des amerikanischen Bundesstaates New York, stellt mir der Leiter der Neuroradiologie, Gary Wood, einige Fragen. „Haben Sie irgendwelche Beschwerden? Haben Sie irgendetwas aus Metall bei sich, einen Stift, Büroklammern?“ Ich hinterlege Schlüssel, einen Stift und mein Aufnahmegerät in einem Schließfach. Dann öffnetder Arzt mir eine schwere, mit Kupfer ausgekleidete Tür und heißt mich im MRT-Raum willkommen.
Eine große, krapfenförmige Maschine beherrscht den Raum. Auf ihr prangt das Logo von General Electric, jener fast 100 Jahre zuvor von Thomas Edison gegründeten Firma, deren Stammsitz sich im nahegelegenen Schenectady befindet. (MRT-Magneten erzeugen 15
000 Gauß starke Magnetfelder. Zum Vergleich: Das Magnetfeld der Erde misst etwa 0,5 Gauß, der Magnet an Ihrem Kühlschrank bringt es vielleicht auf 50 Gauß.) Woods
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