Anatomien
publizieren, aber lange tat sich gar nichts. Erst 1996 veröffentlichte er einen Aufsatz in der Zeitschrift Neuroscience Letters mit den Ergebnissen eines Vergleichs zwischen einer präparierten Sektion von Einsteins rechtem präfrontalem Cortex (einem Teil des Gehirns, der auf die Persönlichkeit und das Urteilsvermögen Einfluss hat) und einer aus fünf älteren Probanden bestehenden Kontrollgruppe. Seine weltbewegende Einsicht war, dass Einsteins Gehirn weder mehr noch größere Nervenzellen besaß als die anderen.
Marian Diamond von der University of California in Berkeley erging es mit ihrem Teil – sie hatte es von Harvey in einem alten Mayonnaiseglas erhalten – nicht besser. In einer bestimmten Region des Scheitel- oder Parietallappens war das Verhältnis zwischen Gliazellen und Neuronen leicht erhöht. Wie Gliazellen und Neuronen zusammenwirken, ist noch kaum bekannt. Gliazellen tragen zu Wachstum und Arbeit des Gehirns bei, und ihre Zahl erhöht sich bei Tieren, die in einer anregenden Umgebung leben. Ob Einstein von Geburt an oder erst seit seiner Tätigkeit am Wissenschaftskolleg in Princeton ungewöhnlich viele Gliazellen besaß, wissen wir nicht.
Sandra Witelson und andere Wissenschaftler an der McMaster University in Hamilton in der kanadischen Provinz Ontario geben an, 1999 als Erste Einsteins Gehirn als Ganzes anatomisch untersucht zu haben. Mithilfe einfacher Messinstrumente verglichen sie Harveys Fotos mit 35 normalen männlichen Gehirnen. Signifikante Unterschiede bemerkten sie nur in den Parietalregionen, die „für das visuell-räumliche und das mathematische Denken wichtig sind“. Einsteins Scheitellappen waren ungefähr einen Zentimeter breiter als der Durchschnitt von Witelsons Kontrollgruppe. Im Unterschiedzu allen anderen männlichen Gehirnen und 56 ebenfalls untersuchten weiblichen Gehirnen schien Einsteins Gehirn offenbar das sogenannte Operculum zu fehlen, ein Gewebestreifen, der an der seitlichen Hirnfurche anliegt, die das Gehirn in seine Hirnlappen teilt. Die kanadischen Wissenschaftler spekulierten, dass Einsteins Scheitellappen deshalb so stark anwachsen konnten und dass sie sich in größerer Nähe zu anderen Hirnregionen befanden, zu denen sie dann ungewöhnlich viele Nervenverbindungen aufbauten.
Witelsons Schlussfolgerung lautet, dass „Einsteins außergewöhnlicher Intellekt und seine eigenständige wissenschaftliche Vorgehensweise etwas mit der atypischen Anatomie seines unteren Parietalläppchens zu tun haben könnten“. Bescheiden fügt sie hinzu, dass ihre Arbeit „die alte Frage nach der neuroanatomischen Basis der Intelligenz ganz offensichtlich“ nicht endgültig beantworte.
Versuche, den Sitz der Genialität bei großen Wissenschaftlern zu lokalisieren, gab es viele. Nach dem Tode Isaac Newtons 1727 fertigte der flämische Bildhauer John Michael Rysbrack aus Stuckgips eine Totenmaske des großen Mannes an, um die Herstellung jener extravaganten Statue vorzubereiten, die heute vor Westminster Abbey steht. Das gedrungene, eckige Gesicht weist einen breiten, strengen Mund und tiefe Stirnfalten auf. Mit dem bekannten, von Godfrey Kneller angefertigten Ölgemälde, auf dem Newton mit länglichem Gesicht und roten, femininen Lippen abgebildet ist, besitzt es nur entfernte Ähnlichkeit. Rysbrack hat die Gesichtszüge auf dem Standbild ebenfalls abgemildert. Maske wie Büste sind seither oft kopiert und verkauft worden und standen auf den Schreibtischen vieler aufstrebender Denker späterer Generationen. So avancierte Newton zum Liebling der Phrenologen.
Franz Joseph Gall, der Pionier der neuen Wissenschaft, sammelte ab 1792 solche Köpfe und entwickelte nach und nach seine Theorie, welche Gehirnfunktionen an welcher Stelle zu finden seien. Angeblich hatte er die Idee dazu schon während seiner Schulzeit. Ihm fiel damals auf, dass ein Mitschüler, der ein hervorragendes Wortgedächtnis besaß, auffällig große und hervorstechende Augen hatte. Denselben Zusammenhang beobachtete Gall auch während des Studiums an der Wiener Universität, und so glaubte er, dass ein direkt hinter den Augen sitzender Gehirnteil für das Wortgedächtnis verantwortlich sein müsse. Gall vermaß systematisch die Erhebungen und Falten auf Hunderten von Köpfen. Seiner Meinung nach eigneten sich jene Menschen am besten für seine Forschung, die sich ungewöhnlich verhielten oder ungewöhnliche Fähigkeiten hatten. Und so sammelte er vor allem die Schädel von Mördern, Wahnsinnigen,
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