Anatomien
Harvard University bat seine Probanden, sich eine Situation vorzustellen, in der ein weinendes Baby die Aufmerksamkeit feindlicher Soldaten auf die Anwesenheit einer Gruppe von Menschen zu lenken droht, die sich verstecken. Darf man das Baby ersticken, um das Leben der anderen zu retten? Greene fand heraus, dass Hirnregionen, die mit Planung, Folgenabschätzung und Aufmerksamkeit zu tun haben, bei Probanden aktiver waren, die sich entschieden, einigen Menschen Schmerzen zuzufügen, um andere zu retten. Mit anderen Worten, wer Entscheidungen trifft, die Folgen für andere Menschen haben, überlegt es sich genauer. Wir hätten es uns nicht anders erhofft.
Greenes Kollege Jason Mitchell setzt die fMRT ein, um Empathie und Vorurteile zu untersuchen. Wer andere Menschen verstehen will, versetzt sich in ihre Lage. Das geht leichter, wenn der andere einem ähnelt. Mitchell bat seine Probanden, die er auf der Basis ihrer sozialen und politischen Einstellungen einteilte, fiktive Personen einzuschätzen, die ihnen entweder besonders ähnelten oder sich besonders stark von ihnen unterschieden. Die Aufnahmen des Gehirns zeigen, dass die Wahrnehmung eines ähnlichen Anderen eine Region aktiviert, die auch beim selbstbezüglichen Denken eine Rolle spielt, während bei der Wahrnehmung eines unähnlichen Anderen eine andere Region ins Spiel kommt. Das sagt uns wenig darüber, warum , aber es zeigt ansatzweise, was passiert, wenn beispielsweise Weiße ein schwarzes Gesicht eher mit negativen Eigenschaften und ein weißes Gesicht eher mit positiven assoziieren. Durch solche Untersuchungen verstehen wir verschiedene Arten von Vorurteilen nach und nach besser.
Kreative Werke wie Gemälde, Sinfonien und Romane gelten als Produkte des individuellen Ausdruckswillens. Aber können wir den kreativen Prozess im Gehirn beobachten? Charles Limb von der Johns Hopkins School of Medicine in Washington nahm sich das vor und fertigte fMRT-Scans talentierter Jazzmusiker an, während sie am Klavier improvisierten, also Musik spielten, die sie selbst erdachten und die es so noch nie gab. Wenn man die Aufnahmen der verschiedenen Musiker betrachtet, erkennt man, welche Regionen besonders aktiv sind. Auch Kreativität lässt sich offenbar lokalisieren. Die Verbildlichungen werden glaubwürdiger, wenn die Messergebnisse verschiedener Probanden ausgewertet werden – wer Scans eines einzigen Menschen auf Kreativität oder Vorurteile hin auswertet, bewegt sich naturgemäß auf dünnem Eis. Und trotzdem frage ich mich, ob ein statistisches Aggregat nicht ebenso wie Galtons zusammengesetzte Fotografien genau die Informationen ausblendet, die es eigentlich sammeln will.
Die fMRT-Technik wird auch zu weniger ehrenwerten Zwecken eingesetzt. Scans von Menschen auf Diät, die sich zwischen gesundem Essen und Fastfood entscheiden müssen, bringen Regionen zum Vorschein, die mit der Selbstkontrolle zu tun haben. Produzierendes Gewerbe und Marketingagenturen haben daran ein besonderes Interesse. Sie wollen nämlich genau diese Regionen umgehen. MRT hat sich als Diagnosetechnik etabliert und ist inzwischen relativ preisgünstig, daher versuchen immer mehr Unternehmen, sie für ihre Zwecke zu nutzen. Gemma Calvert gab ihre wissenschaftliche Karriere als Psychologin auf und arbeitet jetzt für Neurosense, eine Firma, die mithilfe von Gehirnaufnahmen das Verhalten von Konsumenten verstehen will. „Man begegnet uns allgemein mit Misstrauen, weil wir eine medizinische Technologie aus kommerziellenGründen nutzen“, gibt sie zu. Große Konzerne teilen diese Bedenken nicht. Neurosense stellte zum Beispiel in einer im Auftrag einer privaten britischen Frühstücksfernsehsendung durchgeführten Studie fest, dass Zuschauer Werbespots morgens aufmerksamer verfolgen als abends und sich länger an sie erinnern.
„Natürlich können wir durch diese Technologie sehen, wie das Gehirn mit einer bestimmten Aufgabe umgeht“, erklärt Gemma mir. „Schwierig wird es, wenn gesellschaftliche Fragen ins Spiel kommen. Werden wir irgendwann mit diesen Technologien Gedanken lesen können? Ich hätte nichts dagegen.“ Das ist bisher unrealistisch, weil die Auflösung der Scanner noch nicht ausreicht, die Aktivität einzelner Neuronen zu beobachten. Erst dann könnten wir unter Umständen erkennen, was jemand über einen bestimmten Reiz denkt. „Mit dem echten Leben hat das alles noch nicht viel zu tun. Das ist Zukunftsmusik.“
Eine Firma namens No Lie MRI im kalifornischen San Diego
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