Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
Vom Netzwerk:
Staatsmännern und Generälen sowie künstlerischen, wissenschaftlichen und philosophischen Genies. Sein ambitioniertes Ziel war es, eine Anatomie und Physiologie des Gehirns zu begründen, die schließlich die gesamte menschliche Psychologie erklären würde.
    Mithilfe der „Kranioskopie“ identifizierte Gall 27 klar abgegrenzte „Organe“ des Gehirns, denen er jeweils bestimmte Instinkte und geistige Fähigkeiten zuordnete. Dazu gehörten Weisheit, Freundlichkeit, Freundschaft, Mut, Stolz, Eitelkeit, Vorsicht und Tatkraft sowie der Sinn für Raum und Zeit, Musik, Zahlen, außerdem die Fähigkeit, sich Menschen, Worte oder Tatsachen einzuprägen. Bestimmte Regionen seien für das dichterische, humoristische oder schauspielerische Talent zuständig. Mindestens zwei Eigenschaften, der Hang zum Stehlen und zum Morden, bezeugen, dass Gall Zugang zu Gefängnisinsassen hatte. Galls Auffassungen widersprachen der damals verbreiteten Annahme, das Gehirn sei ein homogenes Organ, dessen Funktionen nicht genauer lokalisierbar seien. Die Kirche und die Wiener Behörden lehnten seine Theorien als zu materialistisch ab. Dass Gall zufolge nur ein einziger Bereich für das religiöse Empfinden verantwortlich war, machte ihm das Leben sicher nicht leichter. 1805 verließ er Wien, um andernorts Unterstützung zu suchen. Er ließ sich schließlich in Paris nieder, wo er 1810 seine Theorie und einen opulent illustrierten Atlas des Gehirns veröffentlichte.
    Ein junger britischer Arzt namens Henry Reeve war von Galls Vorträgen anfänglich begeistert, fand Gall aber bei einem zweitenZusammentreffen grob und arrogant. In seinem Tagebuch hielt er fest, „wie bei so vielem hebt sich bei genauerem Hinsehen der Schleier, und das Vergnügen schwindet“. Das ging nicht allen so. Anders als Reeve nahmen viele Briten und Amerikaner Galls Ideen enthusiastischer auf als die meisten Europäer.

    Galls wichtigster Gefolgsmann auf seiner Reise durch Europa war Johann Gaspar Spurzheim, der für ihn sezierte und ihm bei seinen Vorlesungen zur Seite stand. Spurzheim wollte das heute als Phrenologie bekannte Fach popularisieren, und so kam es zwischen den beiden Männern 1812 zum Bruch. Spurzheim organisierte Galls System der Gehirnorgane um, gab vielen ansprechende neue Namen und fügte acht weitere hinzu. Die nunmehr 35 Organe teilte er in intellektuelle und affektive oder moralische ein. Zu den auffälligen Namen gehören Schlauheitssinn, Mord-/Würgsinn, Folgerungsvermögen, Zeugungstrieb und Nachahmungssinn. Er identifizierte ein Organ der Theosophie und des Sinnes für Gott und Religion. Spurzheim begann auch damit, handliche Büsten zu beschriften, die bald zu beliebten Ikonen der neuen Wissenschaft wurden.
    Während es Gall um die wissenschaftliche Erforschung des Gehirns ging, verfolgten Spurzheim und seine Anhänger auch eine moralische und kommerzielle Agenda. Hier und da entstanden phrenologische Gesellschaften. Schädelabtastungen kamen in Mode. Jede Apotheke verkaufte phrenologische Büsten. Immer mehr phrenologische Zeitschriften wurden gegründet, in denen man detaillierte, auf Messungen von Schädeln oder Abgüssen beruhende Analysen der Reichen und Mächtigen lesen konnte.
    Das Schöne daran war natürlich, dass man alle Antworten vorher schon hatte. 1846 veröffentlichte der führende britische Vertreter des Faches, der Edinburgher George Combe, eine ausführliche Schädelanalyse des Künstlers Raffael. Er beschrieb den Schädel selbst als „ein anmutig schönes Oval; seine Oberfläche war bemerkenswert glatt und gleichmäßig“. Diese Regelmäßigkeit war für Raffaels künstlerische Bedeutung entscheidend: „Geschmack ist das Ergebnis einer gelungenen Kombination aller Organe mit einem edlen Gemüt, und wenn wir bedenken, was Raffael mitgegeben war, erkennen wir den Ursprung seiner edlen Anmut.“ Der Präsident der Norwicher Phrenologischen Gesellschaft, William Stark, besaß eine Sammlung von Schädeln, in der jedes Exemplar mit einer Eigenschaft beschriftet war, die den ohnehin bekannten Charakterzügen der jeweiligen Person aufs Genaueste entsprach. Beispielsweise war die wichtigste Eigenschaft eines bereits als „gewiefter Schuldner“ bekannten Mannes die „Geheimniskrämerei“.
    Newtons großartiges Gehirn wurde gleichermaßen unkritisch behandelt. 1845 veröffentlichte das Phrenological Journal and Magazine of Moral Science die Erkenntnis, dass Newtons Kopf auf „allergrößte mathematische Talente“ hinweise

Weitere Kostenlose Bücher