Anatomien
Schlussfolgerung möglich, dass das Blut im Körper eines Tieres im Kreise geführt wird und immer in Bewegung ist und dass das Herz dies durch seinen Puls bewerkstelligt und dass dies der einzige Sinn der Bewegung und Anspannung des Herzens ist.
Diese wissenschaftliche Prosa ist anschaulich, sie belässt es bei der Beschreibung und kommt ohne die barocken literarischen Auswüchse aus, die im 17.
Jahrhundert weit verbreitet waren. Harvey freute sich besonders an der Kreisbewegung und verglich sie mit dem von Aristoteles beschriebenen Kreislauf des Wassers. Das Bild des Blutkreislaufs wiederum regte seinerseits die Fantasie der Zeitgenossen an. Plötzlich stellte man sich zum Beispiel auch den Handel im wachsenden Britischen Empire als Kreislauf vor.
Und nun verstand man endlich besser, warum sich die Infektion eines Körperteils schnell ausbreiten konnte. Doch das herkömmliche Bild, das man sich vom Blut machte – eine rote Flüssigkeit, die aus unseren Wunden fließt und ganz offensichtlich in unserem Körper enthalten ist –, änderte sich zunächst kaum. Auch wenn das Blut jetzt nicht mehr jeweils neu gebildet wurde, sondern durch den Körper floss, konnten medizinische Praktiken wie der Aderlass (man schneidet eine Vene auf, damit Blut abfließt) oder das Schröpfen (man setzt ein erhitztes Gefäß auf die Haut, damit sich dort Blut sammelt) unverändert beibehalten werden. Harvey glaubte, seine Entdeckung erklärte die Wirksamkeit solcher Behandlungsmethoden überhaupt zum ersten Mal schlüssig. Er verabschiedete sich von der alten Galen’schen Ansicht, dass das Blut in der Leber hergestellt, vom Herzen gekräftigt und dann über den ganzen Körper verteilt wird, ohne je zurückzufließen, genau wie auch die Strahlen der Sonne nie zu ihr zurückkehren. Obwohl einer der vier hippokratischen Säfte (neben gelber Galle, schwarzer Galle und Schleim) sich ganz anders durch den Körper bewegte als gedacht, blieb dieses System noch zwei Jahrhunderte lang die Grundlage der Medizin. Auch andere überkommene Reflexe wie der Schrecken und die Furcht, die das Blut auslöst, und die Rituale und Tabus, die mit seinem Auftreten zu tun haben, verschwanden nicht einfach.
Im Judentum gilt das Blut als Quell des Lebens. Dem Buch Deuteronomium gemäß darf nur das Fleisch eines Tieres verzehrt werden. Das Blut ist entweder auf den Boden zu schütten oder auf dem Altar zu opfern. Menschliches Blut ist unrein. Anthropologen zufolge geht diese Sonderstellung des Blutes auf unterbewusste Erinnerungen an Menschenopfer zurück, doch sie spiegelt sicher auch ein tiefsitzendes Gespür dafür wider, dass das Blut Krankheitserreger enthalten kann.
Obwohl das Christentum an das Judentum anschließt, ist seine Einstellung gegenüber dem Blut eine ganz andere. Da der christliche Gott sich im Opferblut Jesu offenbart, steht das Blut mit im Zentrum der Messe. Bis zum Vierten Laterankonzil 1215 war die Zeremonie um Brot und Wein einfach ein Symbol des Letzten Abendmahls. Dann erklärte das Konzil, dass Brot und Wein in der Wandlung zum tatsächlichen Leib und Blut Christi würden. Das so begründete Ritual, die Eucharistie, konnte in jeder Kirche stattfinden und ermöglichte es den Gläubigen, die körperliche Kommunion mit Christus zu feiern. So wird das Blut nicht nur zum sichtbaren Gegenstand der religiösen Versenkung, man trinkt es auch. Im Wunder der Transsubstantiation können die Gläubigen den Leib Christi ohne Ekel aufnehmen – und ohne zu Kannibalen zu werden. Gleichwohl wird der christliche Altar einen Anthropologen immer an heidnische Opfertische erinnern.
Wenn Blut den Körper verlässt, ist es unrein oder schmutzig. Diese Eigenschaften teilt es mit anderen Körperflüssigkeiten wie Urin, Stuhl und Schleim. Anders als diese verlässt es aber normalerweise nicht den Körper. Daher ist es, wenn es sichtbar wird, immer bemerkenswert. Oft ist es ein böses Omen. Der einstmalige Chirurgengehilfe John Keats sah im Alter von 25 Jahren seinen Tuberkulose-Tod kommen, als auf seinem Kissen „Arterienblut war. Das kann nur eines bedeuten. Dieser Blutstropfen ist mein Hinrichtungsbefehl.“ Kafka sollte ein Jahrhundert später an derselben Krankheit sterben, aber er interpretierte sein Blut ganz anders, denn einmal „spuckte ich auf der Civilschwimmschule etwas Rotes aus. Das war merkwürdig und interessant, nicht?“ Der normale Stuhlgang oder ein Schleimbrocken ist weder merkwürdig noch interessant, Blut schon.
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