Anatomien
Operationen hatte ich gezögert. Ich hatte die Weisheitszähne gezogen bekommen. Und mein gebrochenes Bein? Die Schwester muss bei einem Kollegen nachfragen. Schließlich werde ich zugelassen und an eine zweite Schwester weiterverwiesen, die die Dichte meines Blutes überprüft, indem sie einen Tropfen in eine Kupfersulfat-Lösung gibt. Dabei soll sich zeigen, ob mein Blut mindestens den durchschnittlichen Eisengehalt hat. Der Tropfen schwebt eine Zeit lang, dann sinkt er. Ich habe bestanden.
Ich darf mich auf eines der Sofas begeben, wo eine dritte Schwester mir die Nadel in den rechten (nicht den linken!) Arm piekst. Ich spüre fast nichts, ganz im Gegensatz zu der letzten Blutprobe bei meinem Hausarzt. Dann wirft sie die Maschine an, die mir in den nächsten zehn Minuten 470 ml Blut abnehmen soll. Wo der Schlauch an meinem Unterarm ansetzt, spüre ich etwas Warmes – meine eigene abfließende Körperwärme. Bald füllt eine dunkle, rote Flüssigkeit den Plastikbeutel – „nearly an armful“, wie der Kabarettist Tony Hancock einmal sagte. Noch in der Rückenlage und mit Blick auf die Rathausdecke frage ich die Schwester, welche Wirkung dieser klassische Sketch auf die Spendebereitschaft der britischen Öffentlichkeit hatte. Freudlos lacht sie, ohne zu antworten.
Dann darf ich mich einen Moment lang ausruhen und noch etwas trinken. Es gibt so etwas wie einen Stammtisch, wo sich einige über ihr erstes Mal und ihre Gründe unterhalten. Einer von ihnen ist der Gemeindepfarrer, der sich an den Keksen gütlich tut. Ich frage mich, was mein Blut eigentlich wert ist. Das hier ist ein ganz schöner Aufwand. Mindestens zwölf Mitarbeiter sind hier tätig. Sie wollen es heute auf 115 Spender bringen, also etwa 50 Liter Blut. Sind ein Glas Saft und drei Kekse der angemessene Lohn für meinen Beitrag? Ich frage, was jetzt mit meinem Blut passiert, und erfahre, dass es ins nationale Transfusionszentrum im Norden Londons transportiert und dort untersucht und gelagert wird. Später findeich heraus, dass mein Blut doch mit einem Preisschild versehen wird. Das Transfusionszentrum darf es an Krankenhäuser verkaufen, und zwar für ungefähr 125 Pfund. Das ist mehr als drei Kekse.
Ich gehe ins Freie. Scheint die Sonne jetzt heller? Ist die Luft klarer? Möglicherweise. Habe ich weiche Knie, wie mir in Aussicht gestellt worden war, oder sind das nur die normalen Reaktionen eines Mannes, der an einem schönen Frühlingstag nach einiger Zeit in geschlossenen Räumen wieder nach draußen kommt? Zu meiner freudigen Überraschung erhalte ich einige Wochen später einen Dankesanruf. Außerdem erhalte ich einen Formbrief, auf dem neben meiner Blutgruppe die Bemerkung steht, ich habe „etwas wirklich Wunderbares“ getan. So etwas wie eine Kundenkarte liegt bei, die ich an mich nehmen soll. Sie ist rot und gibt an, dass ich „bis zu viermal“ Blut gespendet habe. Die höchste Kategorie ist für Menschen, die mehr als hundertmal gespendet haben.
Viele wissenschaftliche Studien beschäftigen sich mit dieser ungewöhnlichen Transaktion. Spender und Empfänger wissen nichts voneinander, nicht alle dürfen etwas geben, und der Empfänger kann nichts zurückgeben. Auf Nachfrage geben die meisten Spender humanitäre und altruistische Gründe für ihre Blutspende an, aber auch die Selbstzufriedenheit spielt eine große Rolle. Das leuchtet mir ein, und vier Monate nach meinem ersten gehe ich zu meinem zweiten Termin. Der Eisengehalt meines Blutes ist nun etwas zu niedrig, und ich muss ungetaner Dinge wieder nach Hause gehen. Das Gefühl, abgelehnt worden zu sein, nagt an mir.
Die Blutspende ist eine humanitäre Handlung, für die man einer Studie zufolge „einen offensichtlichen körperlichen Preis“ zahlt. Das Opfer, das man erbringt, sei deutlicher sichtbar, als wenn man Geld spendet oder einer alten Dame über die Straße hilft. Die Blutspende könne aber zum Teil der eigenen Identität werden. Wissenschaftler vergleichen sie mit dem Kirchgang. In einer Umfrage gibt ein Klempner auf die Frage nach seiner Motivation ein Zitat aus einem Gedicht von John Donne zu Protokoll: „Kein Mensch ist eine Insel.“
Für die Gründe der Spender interessieren sich vor allem diejenigen, die für die Blutspende Werbung machen. In dem Formbrief der Gesundheitsbehörden heißt es, nur fünf Prozent der möglichen Spender spendeten auch tatsächlich regelmäßig Blut. Wichtig seien besonders diejenigen, die regelmäßig spendeten. Allerdings ist die
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