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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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Meisterwerk Über Wachstum und Form , dass all diese Formen aus kleinsten Abwandlungen der Wachstumsrichtungen von Blättern hervorgehen, also aus der Art und Weise, wie sie vom Stängel weg oder an ihm entlang wachsen. Wachsen sie eher geradeaus, ergibt sich ein lanzenförmiges Blatt – ein Karo. Eine Herzform ergibt sich, wenn die nach außen wirkenden Kräfte größer sind als die vorwärts wirkenden, sodass Teile des Blattes umso weiter vom Stängel wegwachsen, je weiter man von dessen Ansatzpunkt entfernt ist. Wenn das Vorwärtswachstum noch stärker eingeschränkt ist, ergibt sich die gedrückte, symmetrische Form vieler Bohnenarten und eben unserer Niere.
    Verschiedene, schwer zu beschreibende Formen spielen in Wladimir Nabokovs Roman Das Bastardzeichen eine Rolle. Visuelle Leitmotive wie längliche und „spatelförmige“ Pfützen, mit Wasser gefüllte Fußabdrücke und ein seeförmiger Tintenfleck scheinen auf etwas entscheidend Wichtiges hinzuweisen, das der Protagonist Adam Krug vergessen hat. Krug hatte kürzlich einen Todesfall zu beklagen, und er hat unter dem totalitären Regime eines ehemaligen Mitschülers zu leiden. Die Geschichte steckt voller Bilder menschlicher Organe: Unter dem Lederkorsett eines Fußballs befindet sich eine rote Leber, es gibt einen schwarzen Dickdarm auf jemandes Kragen, und der Rumpf einer Figur gleicht einem umgedrehten Herzen. Formen und Farben und die in ihnen ausgedrückten Erinnerungen erlauben es dem Leser, Nabokovs synästhetische Wahrnehmungen nachzuempfinden. Die Symbole kommen zusammen, wenn Krugs Folterer ein Glas Milch umwirft und die Milch eine nierenförmige Pfütze macht, was Krug schmerzhaft daran erinnert, dass seine Frau nach einer Nierenoperation gestorben ist.
    Viele mit den eigenartigen Formen unseres Körpers und seiner Organe verbundene Geheimnisse sind noch immer nicht gelüftet. Zum Beispiel die Frage, warum wir eigentlich zwei Nieren besitzen. Normalerweise gibt uns die Natur, was wir brauchen, nicht mehr und nicht weniger. Zwei nebeneinanderliegende Augen ermöglichen es uns, Entfernungen abzuschätzen. Aufgrund der Position unserer Ohren können wir erkennen, woher ein Geräusch kommt. Warum wir zwei Nieren haben, wissen wir nicht. Vielleicht handelt es sich um eine Nebenwirkung jener praktischen Verdopplungen, die dem Embryo zwei Beine schenken. Das würde auch erklären, warum wir zwei Hoden und zwei Eierstöcke besitzen. Möglich wäre zudem, dass die beiden Nieren irgendwann im Laufe der Evolution doch einmal nützlich waren. Die meisten Tiere haben zwei Nieren, einige sogar noch mehr, und selbst der menschliche Embryo entwickelt etwa in der vierten Schwangerschaftswoche drei Nierenpaare, von denen allerdings nur eines zu einem funktionsfähigen Organ wird.
    Letztlich ist aber weder die Form noch die Anzahl so wichtig wie die Funktion der Nieren. Bei einem von 400 Menschen wachsen die beiden Nieren auf natürliche Art und Weise zusammen. Solche „Hufeisennieren“ tun oft problemlos ihren Dienst, ohne irgendwie auf sich aufmerksam zu machen. Anomalien wie diese bemerken wir häufig gar nicht, weil sie im Körperinneren auftreten – nur was an der Körperoberfläche geschieht, macht uns Sorgen.
    Durch den Überschuss an Nieren konnte dieses Organ zum Pionier der Transplantationschirurgie werden. Die beim Spender verbleibende Niere wächst rasch um etwa 80

% an, womit die ursprüngliche Leistungsfähigkeit beinahe vollständig wiederhergestellt wird. Die erste erfolgreiche Nierentransplantation fand 1954 in der Harvard Medical School statt. Spender und Empfänger waren eineiige Zwillinge, das sollte die Erfolgschancen erhöhen. Der Empfänger blieb noch acht Jahre am Leben, der Spender starb erst 2010 im Alter von 79 Jahren. 2011 erhielten 2850 Menschen in Deutschland eine neue Niere, 755 von einem lebenden Spender. Etwa 8000 Patienten stehen auf der Warteliste. In den Vereinigten Staaten finden jährlich etwa 15

000 Operationen statt, doch stehen dort auch beinahe 100

000 Patienten auf der Warteliste, und die Zahl steigt rasch an. Schätzungen zufolge werden 2015 bei einer sechsstelligen Zahl von Patienten die Nieren versagen. Eine Spenderniere ist ihre einzige Hoffnung.
    Auf der Suche nach neuen Spendern stellen sich sowohl medizinische als auch ethische Fragen. Einige potenzielle Spender wurden in der Vergangenheit als „psychopathologische“ Grenzfälle eingestuft. „Spender mit emotionalen Verbindungen“ zum Empfänger

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