Anatomien
Werbung vor allem auf Erstspender abgestellt. Geld ist offenbar nicht die Lösung. Die Bezahlung (Honorar statt Kekse) gilt als unvereinbar mit den edlen, am Gemeinwohl orientierten Motiven vieler Spender. Sie hätte zur Folge, dass mehr Leute Blut spenden, die Geld brauchen, und das wiederum würde eine (sicher nicht immer vernünftige) Diskussion über die Qualität des gespendeten Blutes auslösen. In den 1950er und 1960er Jahren wurden in US-amerikanischen Slums Schilder mit der Aufschrift „Bares für Blut“ aufgestellt. Die Spender wurden für ihr Blut entlohnt. Doch die Zahl der Spender stieg kaum an, wohingegen sich die Zahl der Spender in Großbritannien nach der Einrichtung des öffentlichen Gesundheitssystems vervierfachte.
Die Zahl wächst auch weiterhin, allerdings langsamer, was angesichts des ansteigenden Blutbedarfs ein Problem darstellt (allerdings führt der Eindruck eines wachsenden Bedarfs wiederum dazu, dass Spender wiederkommen – eine Dynamik, die von den entsprechenden Organisationen erkannt und ausgenutzt wird). Die Spendebereitschaft muss sich erhöhen, so viel ist klar. Doch tief sitzende Ängste schränken unsere Möglichkeiten letztlich ein. Der berüchtigte amerikanische Euthanasieaktivist Jack Kerkovian („Dr. Death“), der eine Reihe von Musikstücken mit dem Titel Ein sehr stilles Leben schrieb und Gemälde aus seinem eigenen Blut schuf, schlug in den 1960er Jahren vor, kurz nach dem Tod eines Menschen dessen Blut abzuzapfen. In ersten Experimenten konnte er zeigen, dass dieses Blut tatsächlich für Transfusionen geeignet war, doch seine Ärztekollegen dementierten die Ergebnisse. In der Zeitschrift Military Medicine postulierte er 1964, dass seine Technik auf dem Schlachtfeld zum Einsatz kommen könnte, doch das Pentagon interessierte sich nicht dafür. Im Prinzip ist die Idee nicht anstößiger als die Praxis, einem Toten Organe zu entnehmen. Blut ist schließlich auch nur eine Art von Gewebe – ein Bindegewebe, das nicht zu einem bestimmten Organ gehört, sondern sich durch den Körper bewegt. Die kulturellen Hürden sind aber ganz offensichtlich höher als die medizinischen.
Vielleicht beruht meine selbstlose Geste auf dem alten Bauernbrauch, sich im Frühjahr und im Herbst einem Aderlass zu unterziehen. Mitbegründer dieses Brauches war der um 200 n. Chr. gestorbene Mediziner Galen, dessen Denken sowohl die islamische wie die westliche Medizin jahrhundertelang prägte. Die alte Sitte erhielt im Mittelalter durch Versuche, Gesundheit und Astrologie zusammenzubringen, neuen Auftrieb und hielt sich bis ins 19.
Jahrhundert. Bei einem Aderlass verlor man etwa so viel Blut, wie ich in den Beutel der britischen Gesundheitsbehörden laufen ließ. Im Medizinmuseum habe ich einmal die dabei eingesetzten furchterregenden Instrumente gesehen: eine einfache Lanzette und ein Gerät, das wie eine Miniversion jenes stacheligen Rollers aussieht, mit dem der Gärtner eine Wiese auflockert. Es sollte einem bestimmten Hautbereich viele kleine Wunden zufügen. Der Aderlass war jahrhundertelang üblich, nicht zuletzt weil er so wirksam war. Er galt als praktisches Heilmittel gegen hohen Blutdruck, schwere Menstruationsblutungen, Hämorrhoiden, verschiedene Entzündungen und Fieber. Zweifellos war der Placebo-Effekt mit im Spiel, wie bei so vielen Pillen heute – nur dass er zusätzlich den heilsamen Effekt hatte, Gedanken an den gekreuzigten Christus wachzurufen.
Gleichwohl war der Aderlass manchmal genau die falsche Behandlungsmethode. Am 14.
Dezember 1799 hatte George Washington beim Aufwachen eine schwere Halsentzündung. Ein Bediensteter bereitete ein Getränk aus Sirup, Essig und Butter zu, das der General nicht schlucken konnte. Washington bat seinen Diener, ihm einen Viertelliter Blut abzunehmen, denn seine Sklaven hatten mit dem Aderlass gute Erfahrungen gemacht. Der erste Arzt nahm ihm ungefähr 1,2 Liter Blut ab, der zweite noch einmal einen knappen Liter. Es war, wie sowohl der Diener als auch Washingtons Frau Martha befürchtet hatten, zu viel des Guten, und so verstarb der erste Präsident der Vereinigten Staaten noch am selben Abend. Wahrscheinlich befand sich am Ende kaum noch Blut in seinem Körper.
Blut nahm unter den vier Säften, die über 2000 Jahre lang die Grundlage medizinischer Praxis bildeten, eine Sonderstellung ein. Lange Zeit – von Hippokrates bis in die frühe Neuzeit – hielten die Ärzte die vier Säfte selbst für unsichtbar. Ihre Wirkung ließ
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