Anatomien
hilfreichen Art nennen es proximales Interphalangealgelenk (die Fingerknochen heißen Phalangen). Die Übung ist gar nicht so leicht. Man ist ständig versucht, auch die anderen Gelenke abzuknicken. Widerstehen Sie dem Drang, so gut Sie können, und versuchen Sie, das mittlere Gelenk der drei Finger möglichst rechtwinklig abzuknicken. Auch das ist schwierig. Sie müssen verschiedene Muskeln auf ungewohnte Art und Weise einsetzen.
Genau diese Pose vollführt Dr. Tulp auf dem Rembrandt-Gemälde, mit dem unser Buch begann. Kunst- und Medizinhistoriker haben es genau untersucht, doch dieses Detail ist ihnen entgangen. Das ist umso eigenartiger, als es dem Künstler offenbar wichtig war – immerhin hat er winzige weiße Punkte auf die Fingernägel gesetzt, um Lichtspiegelungen anzudeuten. Nur die Zange, die Tulp in seiner rechten Hand hält, spiegelt sonst noch so das Licht. Die meisten Wissenschaftler gingen davon aus, dass Tulp eben irgendeine Geste macht. Nur William Schupbach ist aufgefallen, dass Tulp mit der eigenartigen Handhaltung die Funktionsweise genau der Muskeln nachbildet, die er gleichzeitig aus dem vor ihm liegenden Arm hebt. Rembrandt führt uns vor Augen, wie Tulp seine beiden Pflichten innerhalb der Amsterdamer Chirurgengilde erfüllt: Er seziert und er doziert. Wie ein guter Humanist zeigt er, dass Lebendes und Totes sich im Grunde ähneln. Anzunehmen ist, dass er seinem gebannten Publikum zugleich erläutert, was er tut. Laut Simon Schama vollführt er zwei Dinge, die nur dem Menschen eigen sind: Er äußert sich, und er greift. Ein humanistisches Argument macht Tulp daraus freilich nicht, für ihn beweist es die gottgegebene Sonderstellung des Menschen.
Als Sie eben Ihre Finger abgeknickt haben, haben Sie vielleicht gespürt oder sogar gesehen, wie ein bestimmter Unterarmmuskel sich angespannt hat. Das war der flexor digitorum superficialis, der obere Muskel, der die Finger bewegt. Auf dem Unterarm verengt er sich, bevor er sich in vier Sehnen aufteilt, die durch das Handgelenk laufen. Schließlich gabeln sich alle vier noch einmal in je zwei Teile auf, und die vier Paare setzen jeweils an gegenüberliegenden Seiten des mittleren Gelenks eines jeden Fingers an. Diese Gabelung ist besonders elegant, weil sie es einer zweiten Sehnengruppe von einem anderen flexor- Muskel, dem flexor digitorum profundis, ermöglicht, durch die Lücken hindurch die vorderen Fingerglieder zu steuern. Wie Marionettenfäden kontrollieren die acht Sehnen die Beugung der Finger. Auf der anderen Armseite verlaufen die extensor genannten Muskeln mit jenen Sehnen, die dafür sorgen, dass die Finger sich ausstrecken. Neben dem allgemeinen extensor gibt es jeweils einen für den Zeigefinger und den kleinen Finger. Das erklärt, warum man mit dem Zeigefinger besser zeigen kann als mit dem längeren Mittelfinger und warum man beim Teetrinken den kleinen Finger von der Tasse wegstrecken kann (vielleicht hat das noch mit Verhaltensvorschriften in den mittelalterlichen Burgen zu tun, wo die Ritter beweisen mussten, dass sie nicht einfach alles Essbare mit ganzer Kraft anpackten). Alles in allem durchziehen die Sehnen „den Körper auf eine Art und Weise, die so komplex ist wie das Glockenspiel einer Kathedrale“, so J.
E. Gordon in seinem brillanten Buch Structures. In den Fingern befinden sich keine Muskeln. Alle Geschicklichkeit ist daher dieser marionettenhaften Fernsteuerung geschuldet. Rembrandts und Tulps anschauliche Darstellung dieser anatomischen Gegebenheiten mündet in der revolutionären Vorstellung, die René Descartes kurze Zeit später entwickeln sollte: dass man den menschlichen Körper als Maschine zu betrachten habe.
Wie wir gesehen haben, stimmt so einiges mit der sezierten Hand auf der Anatomie des Dr. Tulp nicht. Sie gehörte vielleicht gar nicht Adriaan Adriaanszoon, der da auf der Bahre liegt. Da keine Sektion jemals mit der Hand beginnen würde, haben sich Künstler und Mäzen wohl auf diese Darstellung verständigt, weil sie die anatomische Schönheit der Hand als Zeichen des göttlichen Wirkens in den Vordergrund stellen wollten. Am eigenartigsten ist, dass die Muskeln und Sehnen, die Tulp in der Hand hält, gar nicht die eines linkenArmes sein können. Sie setzen an der falschen Ellenbogenseite an. Rembrandt hatte beim Malen offenbar einen rechten Arm vor sich, den er als Adriaanszoons linken Arm ausgab. Es bleibt ein Rätsel, warum der Praelector diese groteske Verzerrung seiner Kunst durchgehen
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