Anatomien
natürlicher Ausdruck tiefster Trauer bei den Klagenden und Weinenden. Diese Geste hat der Schöpfer der Natur uns aus folgendem Grund gegeben. Trauer, die den sie betreffenden Körper schwächt, wringt den Geist und lässt dadurch Tränen fließen, die traurigen Ausdrücke der Augen, die durch die Kontraktion der Geister des Gehirns produziert und hervorgebracht werden, welche Kontraktion zugleich die Flüssigkeit des Gehirns zusammenfließen lässt, wodurch Tränen in die Augen treten, weshalb das Gehirn das Wringen der Hände veranlasst, eine Geste des Ausdrucks der Feuchtigkeit.
Die Erklärungen in Bulwers Buch sind so lang, dass man sich wirklich eine Sprache ohne Worte wünscht. Ebenso erleichtert wie vergnügt betrachtet man die jeweils in Gruppen von 24 angeordneten, winzigen Radierungen von Händen, die trommeln, streicheln, greifen, herabhängen, winken, sich ausdrucksvoll erheben, sich ballen und öffnen.
Bulwer beschäftigt sich eher mit Demutsgesten als mit Beleidigungen, aber Letztere sind oft noch viel älter. In Aristophanes’ Drama Die Wolken fordert Sokrates Strepsiades im Rahmen des Rhetorikunterrichts auf, ihm zu sagen, ob er den „Daktylus“ kennt, das Versmaß. Dáktylos heißt im Griechischen auch „Finger“, und so streckt ihm Strepsiades erst den Zeigefinger hin, dann in einer obszönen Geste den Mittelfinger, und schließlich entblößt er seinenPhallus mit den Worten: „Als Bub hatt’ ich es mehr mit dem zu tun.“ Die Verbindung zwischen Finger und Penis ist nicht überraschend und war sicher schon vor den Griechen etabliert. Andere Gesten haben ihre vulgäre Konnotation abgeschüttelt. Sowohl der gestreckte Daumen als auch der Kreis aus Zeigefinger und Daumen, mit dem wir andeuten, dass uns etwas geschmeckt hat, sind für uns positive Gesten. In Griechenland und Brasilien sind sie höchst anstößig.
Unklar ist, woher das britische V, also das Victory-Zeichen, stammt. Eine mögliche Erklärung ist, dass im Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England gefangengenommenen Bogenschützen Zeige- und Mittelfinger abgehackt wurden, damit sie nicht länger ihren Dienst tun könnten. Wer nie gefangen wurde, zeigte dem Feind trotzig seine heilen Finger. Das V gehört zu den Handzeichen, die Rabelais aus Anlass eines absurden Duells im Pantagruel beschreibt. Thaumast ist aus England gekommen, um mit Pantagruel über „einige Punkte der Philosophie, Geometrie und Kabbalistik“ zu disputieren, allerdings „ohne zu reden, nur durch Zeichen, denn die Gegenstände sind so schwierig, daß menschliche Worte unzureichend sein würden, ihnen beizukommen“. Schließlich verwickelt nicht Pantagruel, sondern dessen verschmitzter Begleiter Panurge den Engländer in eine witzige Gestenschlacht, in der er unter anderem das V-Zeichen macht. Die Gesten, die Rabelais beschreibt, sind so ausgefallen und albern, dass unmöglich zu sagen ist, ob sie überhaupt etwas bedeuten. Wie Bulwer will Rabelais uns klarmachen, dass Gesten der Kommunikation dienen, aber wir erfahren vor allem, dass die vulgärsten Handbewegungen am leichtesten verständlich sind.
Die Hand hat unsere geistige Welt vor allem dadurch bereichert, dass sie uns Zahlen geschenkt hat. Die römischen Zahlen I, II und III gehen wohl auf die ausgestreckten Finger zurück, und Daumen und Zeigefinger ergeben eine Fünf. Das Dezimalsystem basiert auf den zehn Fingern, und auch die meisten anderen Zahlensysteme (das binäre, das Vierer-, Zwölfer- und Zwanziger-Zahlensystem)beruhen auf verschiedenen Kombinationen von Gliedmaßen und Fingern. Selbst das von manchen amerikanischen Ureinwohnern verwendete Oktalsystem hat mit der Hand zu tun: Hier spielen nicht die Finger die entscheidende Rolle, sondern die Täler zwischen ihnen.
Seit die Wirbeltiere (Reptilien, Vögel und Säugetiere) zu Beginn des Karbons vor 360 Millionen Jahren ihren eigenen evolutionären Weg eingeschlagen haben, hat sich keine neue Tierart mit mehr als fünf Fingern entwickelt. Aber warum haben wir überhaupt fünf? Wir haben schon gesehen, dass wir von der Natur immer das bekommen, was wir brauchen, und wenn wir einmal doppelt so viel besitzen, wie bei Augen oder Ohren, hat das seinen Grund. Welche Rolle spielen also die fünf Finger, was müssen sie einzeln oder zusammen tun?
Beim Zählen ist jeder Finger gleich. Aber sonst sind sie in der Regel so unterschiedlich wie die Werkzeuge eines Schweizer Messers. Der Zeigefinger kann am besten zeigen, er ist lang und hat
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