Anatomien
häufiger als Organspender. „Daher spricht man von ,long pigs‘. Wir nennen Menschenfleisch ,langes Schwein‘, weil menschliche Gliedmaße länger sind. Nur wenige haben beschrieben, wie Menschenfleisch schmeckt, aber dass es Schweinefleisch ähnelt, sagen die meisten.“ Montaigne fragte provokant, warum wir Leichen zwar in der Medizin, aber nicht in der Küche verwenden dürften. Da Ärzte zu diagnostischen Zwecken menschliches Blut zu sich nähmen und geriebenen Schädel (mit oder ohne Ingwer) gegen Anfälle verschrieben, könnten doch auch kannibalistische Praktiken von der Medizin legitimiert werden.
Geschichten über Kannibalismus erregen weiterhin die Gemüter, ganz wie zur Zeit von Montaigne, Defoe und Melville, doch haben gerade Anthropologen das Thema eher gemieden. Angebliche Vorfälle lagen oft weit zurück oder blieben unbestätigt, und geifernde Schlagzeilen in der Presse brachten die Zunft als Ganze in Verruf. Als bei den Fore im Hochland von Papua-Neuguinea Mitte des 20.
Jahrhunderts die Prionenkrankheit Kuru ausbrach, stand das Thema wieder auf der Tagesordnung. Anders als Bakterien und Viren sind Prionen Krankheitserreger nicht auf Nukleinsäuren-, sondern auf Proteinbasis. Prionenkrankheiten betreffen die Muskelkoordination und führen normalerweise zu Zittern, Demenz und Lähmung. Bei der Epidemie in Papua-Neuguinea starben über 2500 Menschen. Das Verbreitungsmuster des Kuru-Ausbruchs ließ sich angeblich durch kannibalistische Praktiken erklären. Frauen steckten sich an, wenn sie Gehirn und Rückenmark von Verstorbenen äßen, Kinder durch die Verbindung mit ihren Müttern bei rituellen Festen. Männer, die vor allem das weniger ansteckende Muskelgewebe äßen, seien weniger betroffen gewesen.
Der amerikanische Anthropologe William Arens ist allen Schilderungen kannibalistischer Praktiken gegenüber skeptisch. Er kritisiert, dass Mediziner wie Sozialwissenschaftler unbestätigte Berichte wörtlich nehmen, und vermutet, dass sich auch professionelle Ethnologen vor Ort, die die Urbevölkerung verschiedener Weltteile beim Kannibalismus „beobachteten“, durch Schweinefleisch täuschen ließen.
Melville erzählt von einer solchen Verwechslung: In dem Südseeroman Taipi vermuten die beiden schiffbrüchigen Protagonisten schon beim Anblick eines einfachen Feuers, dass sie bald gekocht werden. Und als dampfendes Fleisch aufgetischt wird – „Ganz sicher ein gekochtes Baby!“ –, schmeckte es ihnen ganz ausgezeichnet, etwa so wie Kalbfleisch. Als ihnen aber aufgeht, dass es auf der Insel keine Kühe gibt, verfallen sie noch einmal in Panik. „Uns drehte sich der Magen um! Wo sollten diese Leibhaftigen hier schon dieses Fleisch herbekommen haben!“ Schließlich hält einer derMänner eine brennende Wachskerze über den Topf und erkennt zu seiner Erleichterung die verstümmelten Überreste eines jungen Schweins.
Nachdem man das für den Kuru-Ausbruch verantwortliche Protein oder Prion ausfindig gemacht hatte, schien auch die Kannibalismustheorie bestätigt, doch spricht Arens von Indizienbeweisen. Warum führe man Kuru in Neuguinea auf Kannibalismus zurück, die relativ ähnliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in entwickelten Ländern aber nicht? Wir wissen also nicht einmal sicher, ob es jemals kannibalistische Rituale gab, denn weder für heutige noch für vergangene Praktiken gibt es irgendwelche stichhaltigen Beweise. Trotzdem ist die Angst davor weit verbreitet. Einige Anthropologen, die einen kühlen Kopf bewahrten, fanden sogar heraus, dass angeblich kannibalistische „Primitive“ glaubten, die bei ihnen arbeitenden Anthropologen seien Kannibalen.
Vielfalt, Qualität – und Masse. Weil der Magen des Menschen zwar nicht alles, aber doch eine faszinierende Bandbreite dessen verdauen kann, was Mutter Natur ihm anbietet, entwickelten wir ein Bewusstsein für das Vorzügliche. Warum sind wir so wählerisch bei unserem Essen? Das fragt man natürlich am besten einen Franzosen, und wer könnte besser Auskunft geben als Jean Anthelme Brillat-Savarin, Autor des quasi-wissenschaftlichen Meisterwerks Die Physiologie des Geschmacks, dem, soweit ich sehe, als Einzigem überhaupt die Ehre zuteil wurde, dass ein Käse nach ihm benannt wurde. „Essen ist eine Notwendigkeit“, stellte er fest, „gut zu essen ist eine Kunst.“
Die Physiologie des Geschmacks erschien 1825, als Buckland sein eigenartiges Essexperiment gerade erst begonnen hatte, und steckte den Rahmen für eine neue,
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