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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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nationale Küche im nachrevolutionären Frankreich ab. Es ist eine wunderbare Melange aus Rezepten, Geschichte und Geschichten, witzigen Anekdoten, erfundenen Wörtern, Autobiografischem und Ernährungswissenschaftlichem. Die Einleitung besteht aus „Aphorismen des Professors“, darunter dienoch heute bekannten Aussprüche „Sage mir, was du isst, und ich will dir sagen, was du bist“ und „Die Entdeckung eines neuen Gerichtes beglückt die Menschheit mehr als die Entdeckung eines neuen Gestirns“. Brillat-Savarin war Jurist und schrieb an seinem Buch, wenn es ihm auf dem Richterstuhl zu langweilig wurde. Was er über die Funktionsweise des Geschmackssinns sagt, war auf der Höhe seiner Zeit, und zutreffend ist sicher auch die Beobachtung, dass einige von uns so gut wie gar nichts schmecken, während andere dank ihres „Übergeschmacks“ erkennen, „auf welchem Breitengrad ein Wein gereift ist“, und „Spiel- und Standbein des Fasans auseinanderhalten können“. Er beschäftigt sich mit den Verbindungen zwischen Geschmack und Geruch und befragt dafür einen Mann, dem als Strafe die Zunge herausgeschnitten wurde. Und er sagt Wertvolles darüber, wie unangemessen unsere Einteilung von Geschmackseindrücken in süß, sauer, bitter und salzig ist. Moderne Schemata enthalten auch die Schärfe, wie sie Chilischoten auslösen, und den herzhaft-aromatischen Eindruck mit der japanischen Bezeichnung „umami“, den Brillat mit dem von ihm erfundenen Wort „osmazome“ vorwegnimmt, mit dem er eine gute Brühe beschreibt. Diese wenigen Begriffe werden der unendlichen Vielfalt der Geschmackseindrücke nicht gerecht, für deren „Definition Berge von Pergament nicht ausreichten und für deren Klassifikation wir ein ganz neues Zahlensystem bräuchten“.
    Über den Verdauungsprozess und die Art und Weise, wie wir dabei Energie umwandeln und Proteine, Vitamine und Mineralien gewinnen, hat er uns wenig mitzuteilen. Brillats Hauptinteresse gilt dem Vergnügen am Essen, wie schon der Untertitel seines Buches sagt: Transzendentalgastronomische Meditationen. Mit anderen Worten: Er möchte uns zu Gourmands machen. „Feinschmeckerei ist eine leidenschaftliche, wohlüberlegte, Gewohnheit gewordene Schwäche für alle Dinge, die dem Gaumen schmeicheln“, schreibt er, und das habe nichts mit Völlerei zu tun, wie er rasch hinzufügt, denn sie sei auch „die Feindin aller Exzesse“. Er gibt an, welche Berufsgruppen der Feinschmeckerei von Natur aus zugetan seien:Geistliche, Schriftsteller und Bankiers sowie Ärzte, die er freilich für die Verschreibung bitterer Medizin und für strenge Ernährungsvorschriften tadelt. Auch dem weiblichen Geschlecht steht die Feinschmeckerei gut an: „Sie ist der Schönheit günstig.“ Außerdem seien Feinschmecker die bessere Partie, weil sie länger lebten.
    Wir übertreiben es gern mit den kulinarischen Genüssen, die uns angeblich dafür entschädigen sollen, dass wir das einzige leidensfähige Lebewesen sind. Selbst die Franzosen seien mit Bezug auf das Essen nicht so umsichtig, dass sie ganz vor der Völlerei gefeit wären. Das gilt besonders für Geistliche. Rabelais kritisiert im vierten Buch seines Pantagruel die Mönche, die ihren Bauch vergötterten. Diese faulen, großschlündigen Gastrolater verehrten den Gott Gaster und brächten ihm Opfergaben dar. Rabelais zählt seitenweise Fleischgerichte auf, bei denen einem das Wasser im Mund zusammenläuft, und dann seitenweise Fischgerichte, die man zur Fastenzeit opfern dürfe. Gaster selbst zeigt sich unbeeindruckt und gibt zu, „dass er kein Gott sei, sondern nur eine arme, elende gebrechliche Kreatur“. Seine Anhänger verweist er auf seinen Nachtstuhl, „damit sie dort nachsehen, sich überzeugen, ergründen und ausschnüffeln könnten, was sie denn Göttliches in seiner fäkalen Materie fänden“.
    Brillat-Savarin erkannte das Problem der Völlerei und nahm in sein Buch ein äußerst modernes Kapitel über die Fettleibigkeit auf. Über sich selbst macht er sich keine Sorgen: „Mein Bäuchlein habe ich immer als Feind angesehen, der mir Respekt einflößt. Ich habe ihn besiegt und seine Form auf das rein Majestätische beschränkt“, erklärt er. (Die Physiologie war sein Lebenswerk und erschien ein Jahr, bevor er 70-jährig starb, weshalb wir vermuten können, dass er ein paar Kilo zu viel auf die Waage brachte.) Andere hingegen seien in einer misslicheren Lage: Die von ihm so getauften „Gastrophoren“ hätten durch

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