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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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ließ. Vielleicht achtete er nur darauf, wie er selbst auf dem Gemälde aussah.
    Rembrandts Hand ist gleichwohl viel sorgfältiger ausgeführt als alle, die ich in modernen Sektionssälen gesehen habe. Sie kann es locker mit den konservierten Körperteilen in anatomischen Sammlungen aufnehmen und wird dem zeitgenössischen Bild von der Hand als edelstem Körperteil ohne Weiteres gerecht. Helkiah Crooke bezeichnete sie in seinem Essay On the Excellency of the Hands 1618 als „die beiden bemerkenswerten Waffen“ des Menschen. Die Hand sei das „erste Werkzeug und daher Vorbild für alle weiteren ... Mit der Hand werden Gesetze geschrieben, Tempel zum Dienst am Schöpfer gebaut und Schiffe, Häuser, Instrumente und alle Arten von Waffen gestaltet.“
    Diese Vielseitigkeit zeichnet die Hand – und den Menschen als solchen – aus. Sie hat wenig mit der Klaue niederer Geschöpfe gemein. Die Hand ist zu allem fähig, erst recht wenn sie sich eines Werkzeugs bedient. Sie ist dann das physische Gegenstück unseres freien Geistes. Der vorsokratische Philosoph Anaxagoras glaubte, der Mensch sei aufgrund seiner Hände intelligenter als die Tiere. Aristoteles erklärte dagegen ein Jahrhundert später, die Hände seien nur deshalb nötig, weil wir ohnehin so intelligent seien. Beide waren sich einig, dass Hand und Geist etwas miteinander zu tun haben. Auch heute zweifelt daran niemand, selbst wenn noch immer nicht klar ist, was zuerst da war.
    Die nur scheinbar einfache Tätigkeit des Zeigens verdeutlicht, wie eng die Entwicklung der Hand mit den weiteren menschlichen Fähigkeiten verbunden ist. Helkiah Crooke und andere dachten, nur der Mensch benutze Werkzeuge. Studien zu Schimpansen und anderen Tieren haben das inzwischen widerlegt, sodass das Bild vonder Einzigartigkeit des Menschen Risse bekommen hat. Allerdings sind wir wohl noch immer das einzige Lebewesen, das zeigen kann. Das Zeigen ist etwas ganz und gar „Unnatürliches“. Es setzt voraus, dass wir eine Art geistiges Etikett oder einen Namen für das besitzen, worauf wir zeigen, denn sonst liefe das Zeigen ins Leere. Das wiederum setzt nicht nur Sprache, sondern eine gemeinsame Sprache voraus, und noch dazu die Einsicht, dass der Geist desjenigen, dem wir etwas zeigen, unserem eigenen gleicht und ihn dazu befähigt, aus den vielen vor uns liegenden Gegebenheiten das Gezeigte herauszufiltern. Laut dem Mediziner und Philosophen Raymond Tallis wird das Zeigen dadurch zum „grundlegenden Akt des Weltteilens, der Herstellung einer gemeinsamen Welt“.
    Die zeigende Hand machte sich bald selbstständig, man nannte sie Index, Faust oder Manicula. Heinrich VIII. zeichnete selbst mit spitzer Feder kleine Handsymbole auf die Ränder von Buchseiten, wenn er bestimmte Abschnitte wiederfinden wollte. Viele Leser zeichneten ihre ganz individuellen Maniculae, die nicht einfach Symbole, sondern persönliche Gesten waren. Die zeigende Hand war eines der ersten Klischees – ein Klischee ist ein Sonderzeichen, das der Drucker so oft braucht, dass es sich lohnt, eine eigene Druckform herzustellen. Bis ins 18.

Jahrhundert war die Hand ein ganz normales Satzzeichen, und in den 1980er Jahren erlebte sie mit dem Cursorsymbol auf dem Computerbildschirm plötzlich ein Comeback. Alleinstehende Hände können sich auch anderweitig nützlich machen, so wie Eiskaltes Händchen in der Addams Family, das Gomez die Zigarren anzündet. Sie zeigen aber auch schicksalhaft auf uns selbst, so wie der böse Handschuh der Blue Meanies in dem Beatles-Film Yellow Submarine, die fliegende Hand der britischen Lottogesellschaft („Sie könnten gewinnen!“) und die befehlenden Zeigefinger von General Kitchener und Uncle Sam auf den Plakaten im Ersten Weltkrieg.
    Das Zeigen gehört zum riesigen Gestenrepertoire der Hand. Manchen Schätzungen zufolge ist die Zahl möglicher Gesten größer als die Anzahl englischer Wörter. Die Hand Gottes zeigt nichtnur, sie streckt zwei Finger aus, um zu segnen, und bietet uns die offene Handfläche dar, um Wohltaten zu verteilen. 1644 veröffentlichte John Bulwer, der von der Hand so begeistert war, dass er seine Tochter Chirothea nannte („Hand Gottes“), seine Chiromania und Chirologia, einen umfassenden Gestenkatalog. Bulwer glaubte, Gesten beruhten auf einer von den einzelnen Sprachen unabhängigen „universalen Vernunft“ und könnten als eine Art stummes Esperanto fungieren. Für vertraute Gesten hat er einleuchtende Erklärungen:

    Die Hände wringen –

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