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Anatomien

Anatomien

Titel: Anatomien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hugh Aldersey-Williams
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übermäßigen Stärke- und Zuckerkonsum, durch einen Mangel an Bewegung und ein Zuviel an Schlaf „ihre Form und ihre ursprünglich harmonischen Proportionen verloren“. Brillat-Savarin empfiehlt Gegenmittel, die das Übel an der Wurzel angreifen und noch heute Beachtung verdienen. Für den Fall, dassBewegung und eine zurückhaltendere Ernährung nicht helfen, hat er einen „Anti-Fett-Gürtel“ in petto, der den Bauch Tag und Nacht im Zaum halten soll. Er warnt aber vor extremen Methoden wie dem damals bei Frauen verbreiteten Brauch, Essig zu trinken, und erzählt die bewegende Geschichte einer jungen Frau, die er schon als Mädchen gekannt habe und die an dem litt, was wir heute (seit den 1860ern) Anorexie nennen. Sie sei in seinen Armen gestorben. Und mit ihr die glückliche Ehe des Gourmets Jean Anthelme.
    Ein berüchtigter Meilenstein in der Geschichte der französischen Völlerei ist der Film Das große Fressen, in dem vier Männer mittleren Alters beschließen, sich im Laufe eines Wochenendes im Beisein einiger Prostituierter in einer entlegenen Villa zu Tode zu fressen. Einer nach dem anderen schafft es. The End. Filme wie dieser schädigen das Image des kontinentaleuropäischen Kinos in der angelsächsischen Welt, in der fleischliche Genüsse allenfalls am Rande vorkommen. Bei seiner Uraufführung auf dem Filmfestival in Cannes 1973 sorgte der Film für einen Skandal, und zwar nicht wegen seiner tödlichen Mixtur aus Essen, Sex und Tod, sondern weil der italienische Regisseur Marco Ferreri es gewagt hatte, das Herzstück französischer Kultur satirisch zu betrachten.
    Irgendwann wollen die vier Männer sehen, wer am schnellsten essen kann. Die Szene ist ein Vorläufer der heutigen Ess-Spektakel – diesen fehlen allerdings die Kunst und der allegorische Überbau einer wie ein Croquembouche zu zerstechenden Zivilisation. Es geht nur darum, eine möglichst große Menge von irgendetwas in sich hineinzustopfen, seien es Erbsen, Austern, Mars-Riegel, Marmeladenbrote oder was auch immer. Nach Angaben der International Federation of Competitive Eating, der Internationalen Föderation der Wettesser, heißen die Meister dieser zweifelhaften Zunft „gurgitators“, zu Deutsch etwa „Massenkäuer“. Rabelais und Brillat hätten ihre Freude an dem Wort gehabt. Ein gewisser Patrick Bertoletti zeichnet sich dadurch aus, dass er innerhalb von acht Minuten mehr Zitronenkuchen, Gurken und Pizzastücke essen kann als jeder andere – oder einfach 275 Jalapeño-Schoten. Überraschenderweise sind nicht alle Meistermassenkäuer fett. Sonya Thomas wiegt nur 50 Kilo, und sie verspeiste in zwölf Minuten 44 Hummer. Wer es ganz nach oben schaffen will, sollte seinen Körper darauf vorbereiten, nicht umsonst stehen Ärzte bei den Wettkämpfen bereit. Anatomische Untersuchungen der Meistermassenkäuer ergaben, dass ihre Mägen sich weit über das Normalmaß hinaus ausdehnen können. Anderes bleibt dagegen im Dunkeln. Im Gegensatz zu Ferreris Film macht die Föderation der Wettesser keine Angaben darüber, auf welchem Wege das Essen die Körper ihrer Mitglieder wieder verlässt. Die Nahrungsaufnahme wird gefeiert, die Ausscheidungen werden totgeschwiegen. Immer mehr Menschen begeistern sich für die entsprechenden Fernsehprogramme, und zu den Sponsoren gehören nicht nur Lebensmittelfirmen, sondern auch Procter & Gamble, ein Konzern, der unter anderem Mittel gegen Sodbrennen herstellt. „Esswettkämpfe“ geraten erst jetzt ins Blickfeld der Anthropologen, während Tierverhaltensforscher den Begriff schon seit Langem verwenden. Diese Veranstaltungen sind ein großes Gaudium, und sie treiben den evolutionären Wettbewerb um das Überleben des Stärksten in unerwarteter Weise auf die Spitze.
    Im Großen Fressen füttert der letzte noch lebende Teilnehmer, der von Philippe Noiret gespielte Philippe, die im Hof auf ihr eigenes Festmahl wartenden Hunde mit kleinen Häppchen. „Seid gierig“, sagt er ihnen. „Esst zu viel. Esst immer zu viel.“ Zuletzt macht er sich an eine Art Pudding, der aussieht wie zwei Brüste – der Kreis schließt sich. Ferreris Film und die heutigen Esswettbewerbe zeigen, dass der schöne Schleier, den die Gastronomie über unsere Ernährungsbedürfnisse geworfen hat, so leicht verfliegt wie Puderzucker.

Hände
    Probieren Sie mal Folgendes: Halten Sie Ihre linke Hand hoch und formen Sie aus Daumen und Zeigefinger ein O. Knicken Sie dann die anderen Finger am mittleren Gelenk ab. Mediziner in ihrer

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