Anbetung
interessiert.
Der Besitzer von Tire World ist Mr. Joseph Mangione. Er ist der Vater von Anthony Mangione, einem Freund von mir aus der Highschool.
Anthony studiert an der UCLA. Er hofft auf eine medizinische Karriere.
Mr. Mangione ist stolz darauf, dass sein Junge Arzt werden wird, aber er ist auch enttäuscht, weil Anthony kein Interesse am Familienbetrieb hat. Er würde sich freuen, wenn ich bei ihm arbeiten würde, und mich zweifellos wie einen Ersatzsohn behandeln.
Erhältlich sind hier Reifen für Pkws, Geländewagen, Lastautos und Motorräder. Es gibt zwar viele Größen und Qualitätsunterschiede, aber sobald man das Angebot im Kopf hat, ist der Job bei Tire World völlig stressfrei.
An jenem Dienstag hatte ich allerdings nicht die Absicht, meinen Bratenwender im Pico Mundo Grill in naher Zukunft an den Nagel zu hängen, obwohl ein Job als Grillkoch durchaus
stressig sein kann, wenn alle Tische besetzt sind, sich an der Bestellschiene die Bons drängen und einem der Kopf vom Küchenjargon summt. An Tagen, an denen ungewöhnlich viele Begegnungen mit Toten dazukommen, wird mir der Magen sauer, und dann weiß ich, dass ich nicht nur am Rand des Burnout-Syndroms bin, sondern auch eine säurebedingte Speiseröhrenerkrankung riskiere.
In solchen Zeiten kommt mir das Reifenleben wie eine Zuflucht vor, die fast so friedlich wie ein Klosterleben ist.
Allerdings spukt es selbst in Mr. Mangiones nach Gummi duftendem Paradieswinkel. Ein besonders hartnäckiger Geist haust im Ausstellungsraum.
Vor acht Monaten ist Tom Jedd, ein angesehener Steinmetz aus der Stadt, ums Leben gekommen. Sein Wagen ist nach Mitternacht auf der Panorama Road ins Schleudern geraten, hat die morschen Leitplanken durchbrochen, ist einen dreißig Meter hohen Felshang hinabgestürzt und schließlich im Mala Suerte Lake versunken.
Sechzig Meter vom Ufer entfernt haben drei Angler in ihrem Boot beobachtet, wie Tom in seinem PT Cruiser baden ging. Sie riefen mit dem Handy bei der Polizei an, aber die Rettungsdienste kamen zu spät, um Tom zu retten.
Bei dem Unfall wurde Tom der linke Arm abgerissen. Der Gerichtsmediziner konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob das Opfer zuerst verblutet oder ertrunken war.
Seither hängt der arme Kerl bei Tire World herum. Ich weiß auch nicht, wieso. Schließlich ist sein Unfall nicht von einem Reifenschaden verursacht worden.
Er hatte sich in einer Kneipe namens Country Cousin voll laufen lassen. Bei der Autopsie wurde ein Blutalkoholgehalt von 1,8 Promille festgestellt, weit über der erlaubten Grenze. Entweder hat Tom wegen seines Rauschs die Beherrschung
über das Fahrzeug verloren, oder er ist am Lenkrad eingeschlafen.
Jedes Mal wenn ich den Ausstellungsraum aufsuche, um durch die Regalreihen zu schlendern und über eine berufliche Neuorientierung nachzugrübeln, merkt Tom, dass ich ihn sehe, und begrüßt mich mit einem Blick oder Kopfnicken. Einmal hat er mir sogar verschwörerisch zugezwinkert.
Irgendwelche Versuche, mir seine Absichten oder Bedürfnisse mitzuteilen, hat er jedoch noch nie gemacht. Er ist ein zurückhaltender Geist.
An manchen Tagen wünschte ich mir, mehr Tote wären so wie er.
Er ist in einem Hawaiihemd mit Papageienmuster, Kakishorts und weißen Turnschuhen ohne Socken gestorben. In diesem Aufzug erscheint er auch immer, wenn er Tire World unsicher macht.
Manchmal ist er trocken, manchmal sieht er durchnässt aus, so als wäre er gerade aus dem See gestiegen. Normalerweise hat er beide Arme, gelegentlich fehlt ihm der linke aber auch.
An dem Zustand, in dem ein Toter erscheint, kann man eine Menge über seinen Geisteszustand erkennen. Ist Tom Jedd trocken, so scheint er sich mit seinem Schicksal abzufinden, auch wenn er damit nicht völlig versöhnt ist. Wenn er jedoch nass ist, dann sieht er zornig, bekümmert oder verdrossen aus.
An jenem Tag war er trocken. Das Haar war gekämmt. Er schien entspannt zu sein.
Tom hatte diesmal beide Arme, aber der linke war nicht an der Schulter befestigt. Er trug ihn mit der Rechten lässig wie einen Golfschläger. Genauer gesagt, hielt er ihn am Bizeps.
Dieses groteske Verhalten war durchaus nicht unappetitlich. Glücklicherweise habe ich Tom noch nie in blutigem Zustand
gesehen, vielleicht weil ihm das eklig vorkommt oder weil er immer noch leugnet, dass er verblutet ist.
Zweimal hat er sich, als ich gerade zu ihm hinsah, etwas Besonderes einfallen lassen. Er hat den abgetrennten Arm als Rückenkratzer verwendet und sich mit den
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