Anbetung
Jahre nach seinem Tod eingesetzt.
Die Ursprünge dieser Besessenheit sind ihr selbst teilweise unerklärlich. Sie sagt, ein Grund, wieso Elvis für sie so wichtig sei, liege darin, dass die Popmusik in seiner Jugend politisch noch unschuldig gewesen sei und daher zutiefst lebensbejahend und bedeutungsvoll. Als Elvis starb, hätten die meisten Popsongs in eine andere Richtung tendiert; sie wären zu Hymnen an die Werte des Faschismus geworden, meist ohne die bewusste Absicht derer, die sie schrieben oder sangen. Das sei bis heute so geblieben.
Ich hingegen vermute, dass Terri nicht zuletzt deshalb von Elvis besessen ist, weil sie auf einer unbewussten Ebene schon immer wahrgenommen hat, dass er hierher zu uns nach Pico Mundo gezogen ist, mindestens seit meiner Kindheit, vielleicht schon seit seinem Tod. Dass dem so ist, habe ich Terri erst vor einem Jahr verraten. Wahrscheinlich ist sie ein latentes Medium, das die unkörperliche Anwesenheit von Elvis spürt und daher den Drang hat, sich mit seinem Leben und seiner Karriere zu beschäftigen.
Ich habe keine Ahnung, weshalb der King of Rock ’n’ Roll nicht ins Jenseits übergewechselt ist, sondern selbst nach so vielen Jahren noch in dieser Welt herumspukt. Buddy Holly ist schließlich nicht dageblieben; er hat den Tod ordnungsgemäß hinter sich gebracht.
Und wieso hängt Elvis in Pico Mundo herum statt in Memphis oder Las Vegas?
Laut Terri, die alles über sämtliche Tage von Elvis’ ereignisreichen zweiundvierzig Jahren weiß, was es zu wissen gibt, hat
er unsere Stadt bei Lebzeiten nie besucht. Und in der Fachliteratur zu paranormalen Themen ist nirgendwo die Rede von einem solchen geografisch versetzten Spuk.
Wir waren nicht zum ersten Mal damit beschäftigt, an diesem Geheimnis herumzurätseln, als Viola Peabody uns unser spätes Mittagessen brachte. Viola ist so schwarz, wie Bertie Orbic rund ist, und so dünn, wie Helen Arches plattfüßig ist.
Während Viola unsere Teller auf den Tisch stellte, fragte sie: »Odd, kannst du mir weissagen?«
Eine ganze Reihe von Leuten in Pico Mundo halten mich für eine Art Medium: für einen Hellseher, einen Thaumaturgen, Seher, Wahrsager, irgendetwas in der Richtung. Nur eine Hand voll weiß, dass ich die ruhelosen Toten sehe. Die anderen haben sich auf der Basis von Gerüchten irgendein Bild von mir geschnitzt, sodass ich für jeden eine andere Gipsfigur bin.
»Viola!«, antwortete ich. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich weder aus der Hand lesen noch Beulen am Kopf deuten kann. Auch Teeblätter sind für mich nichts als Abfall.«
»Dann lies in meinem Gesicht«, sagte sie. »Sag mir – siehst du, was ich heute Nacht im Traum gesehen habe?«
Viola ist normalerweise ein fröhlicher Mensch, obwohl Rafael, ihr Mann, bei der Kellnerin eines schicken Steakhauses drüben in Arroyo City eingezogen ist und seine Kinder seither weder mit Rat noch mit Bargeld unterstützt. An diesem Tag jedoch sah sie so ernst und sorgenvoll drein wie nie zuvor.
»Das Letzte, wo ich drin lesen kann, sind Gesichter«, erklärte ich ihr.
Jedes menschliche Gesicht ist geheimnisvoller als die von der Zeit gegerbte Miene der Sphinx im Sand der ägyptischen Wüste.
»In meinem Traum«, sagte Viola, »hab ich mich selbst gesehen, und mein Gesicht war … verwüstet, tot. Ich hatte ein Loch in der Stirn.«
»Vielleicht war es ein Traum über deine Heirat mit diesem Rafael.«
»Nicht lustig«, mahnte Terri mich.
»Ich glaube, vielleicht hat man mich erschossen«, sagte Viola.
»Liebes«, tröstete sie Terri, »wann ist das letzte Mal ein Traum von dir wahr geworden?«
»Ich glaube, noch nie«, sagte Viola.
»Dann würde ich mir wegen dem auch keine Sorgen machen.«
»Aber soweit ich mich erinnern kann, hab ich mir im Traum noch nie selbst ins Gesicht geschaut.«
Auch ich habe selbst in meinen Albträumen, die manchmal tatsächlich wahr werden, noch nie mein eigenes Gesicht erblickt.
»Ich hatte ein Loch in der Stirn«, wiederholte Viola, »und mein Gesicht war irgendwie gruselig, ganz schief.«
Durchschlägt ein Hochleistungsgeschoss von größerem Kaliber die Stirn, so wird eine gewaltige Energie freigesetzt, von der die Struktur des gesamten Schädels verformt werden kann. Das Ergebnis ist eine feine, aber doch beunruhigende Veränderung der Gesichtszüge.
»Mein rechtes Auge«, fügte Viola hinzu, »war blutunterlaufen und sah aus, als … als würde es halb aus der Höhle quellen.«
In unseren Träumen sind wir keine
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