Andalusisches Feuer
Augen auf. Bevor sie zurückweichen konnte, krachte seine Hand wenige Zentimeter neben ihrem Kopf an die Wand. Das Echo hallte in ihren Ohren wider. Vor Angst war sie halb von Sinnen. „Du hast mich angelogen. Ihr habt alle gelogen. Die Abtreibung? Eine Lüge. Por dios, eine Lüge!“ Seine Wut steigerte sich ins Unermessliche. „Die ganze Zeit, die ganzen Jahre eine Täuschung, damit du mir meine Kinder stehlen kannst. Du denkst, du kämst ungestraft davon? Du glaubst, ich ließe mein eigenes Fleisch und Blut von einer eiskalten Xanthippe aufziehen? Dafür wirst du bezahlen. Du wirst sie verlieren. Ich nehme sie dir weg!“
Sarah konnte nicht begreifen, wie ihr geschah. Sie erfasste nur die letzte grausame Drohung. „Das kannst du nicht machen!“
Er zog seine Hände zurück. „Wir werden uns vor Gericht wiedersehen. In meinen Unterlagen gibt es keinerlei Hinweis auf Kinder. Ich kann beweisen, was mir angetan wurde. Kein Richter wird das Sorgerecht einer Frau zusprechen, die lügt und betrügt.“
Entsetzt starrte sie ihn an. Ohne sich umzudrehen, stürmte er zur Wohnungstür. Sie verschwendete keinen Gedanken an ihre nackten Füße und rannte ihm hinterher. In Panik packte sie seinen Ärmel, er schüttelte sie ab, wies sie grausam zurück. „Lügnerin!“, schrie er laut genug, um das ganze Haus aufzuwecken.
So konnte sie ihn nicht gehen lassen! Die Türen des Aufzugs schlossen sich hinter ihm. Sie flog die Treppe herunter, zwei Stufen auf einmal nehmend, Stockwerk für Stockwerk, bis sie ganz schwindlig in dem kleinen Foyer ankam.
„Mrs. Southcott!“, rief der Wachmann und sprang auf, um ihr zu folgen.
Ein schwarzer Lamborghini schoss die Straße entlang, schnell wie ein Jet auf der Startbahn. Sarah sah ihm mit tränenblinden Augen nach.
„Was ist passiert?“
Verwirrt blickte sie den besorgten Sicherheitsmann an. Einen Moment lang wusste sie nicht mehr, was sie hierhergeführt hatte. „Nichts … nichts“, murmelte sie.
Fröstelnd kehrte sie ins Haus zurück, fuhr mit dem Lift nach oben und ging in ihre Wohnung.
Ihr ruhiges Leben hatte sich in einen Albtraum verwandelt. Warum war sie bei seinen aberwitzigen Drohungen in Panik geraten? Unlösbare Fragen wirbelten ihr durch den Kopf. Rafael log nie, nicht einmal aus Höflichkeit. Schon früher hatte er ihre Eltern mit seiner schonungslosen Offenheit schockiert. Aber warum stellte er sich jetzt so unwissend? Warum bezichtigte er sie der Lüge?
Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. Sie rief sich Rafaels Erschütterung bei Gillys Erscheinen ins Gedächtnis zurück, die gequälten Worte … sein Schweigen. Dann erinnerte sie sich der Dokumente, die sie vor fast fünf Jahren ungelesen unterzeichnet hatte. „Ich kann beweisen …“, hatte Rafael behauptet. Wenn das stimmte, bedeutete es, dass ihr Vater die Geburt der Zwillinge absichtlich unterschlagen hatte, indem er sichergestellt hatte, dass die Kinder in den Scheidungspapieren nicht erwähnt wurden. Ihr war, als würde sie in ein tiefes schwarzes Loch stürzen, kalter Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper.
Hatte Rafael jemals den Brief erhalten, den sie ihm aus der Klinik geschrieben hatte? Sie hatte ihn als bettlägerige Patientin nicht selbst abschicken können und daher ihre Mutter gebeten, es für sie zu tun. Ihr hatte sie immer vertraut. Was war geschehen? Sie fröstelte. Morgen würde sie mit den Eltern sprechen. Es musste eine einleuchtende Erklärung geben, ganz bestimmt. Irgendwo war ein schreckliches Missverständnis aufgetreten, und Rafael war das Opfer. Doch auch als sie später schlaflos im Bett lag und ihre Gedanken durcheinanderwirbelten, fand Sarah keine plausible Deutung.
Gegen ihren Willen drängte sich die Erinnerung an jene verhängnisvollen drei Wochen in Paris in ihr Bewusstsein – es waren zauberhafte, farbenfrohe Bilder. Die Bücherstände an der Ecke zum Pont au Double; die verwirrende Vielfalt an Obst-und Gemüsesorten auf dem Mouffetard-Markt, der appetitanregende Duft frisch gebackener Baguettes, die die Pariser unter dem Arm nach Hause trugen; der sündhaft süße Geschmack tunesischer Honigkuchen aus der Rue de la Huchette; die einladenden Cafés auf den Champs-Élysées …
In ihrem letzten Schuljahr war sie sehr einsam und isoliert gewesen, und Margos Einladung hatte ihr in dieser Situation wieder Selbstvertrauen gegeben. Dass die Klassenkameradinnen Margo boshaft und unangenehm fanden, hatte sie nicht hören wollen.
Margo hatte sie nach Paris
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