Andalusisches Feuer
eingeladen, um ihren verwitweten Vater zu beruhigen, dem das wilde Benehmen seiner Tochter Sorgen bereitete. Bereits am ersten Tag hatte sie deutlich zu verstehen gegeben, dass sie auf Sarahs Begleitung keinen Wert legte. „Dad denkt, du kannst mich zügeln, aber da täuscht er sich. Ich habe einen Freund und denke nicht daran, dich als fünftes Rad am Wagen mitzuschleppen.“
Sarah hätte wieder nach Hause fliegen sollen, war dafür aber zu stolz gewesen. So mühevoll hatte sie ihren Eltern die Erlaubnis zur Reise entrungen, dass sie ihnen ihren Fehler nicht hatte eingestehen wollen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie frei wie ein Vogel gewesen, niemand hatte sich für ihr Kommen und Tun interessiert. Mit einem langweiligen Stadtführer ausgestattet, war sie also allein losgezogen. Die anonymen Menschenmassen und der unglaubliche Verkehr hatten sie zunächst eingeschüchtert. Am dritten Tag war dann der Unfall passiert. Sie hatte an einer belebten Kreuzung gestanden und den Stadtplan studiert, als ein Jugendlicher auf einem Motorrad an ihr vorbeigesaust war, ihr die Schultertasche entrissen und sie umgeworfen hatte. Sie war in der Gosse gelandet, und in diesem Augenblick war Rafael ihr zu Hilfe gekommen.
In jenem Bruchteil einer Sekunde hatte sich ihr Schicksal gewendet. Er hatte ihr aufgeholfen und sie in fließendem Französisch gefragt, ob sie verletzt sei. Als er ihre stammelnden Versuche, sich in einer fremden Sprache auszudrücken, bemerkte, war er in ein geschliffenes Englisch übergewechselt. Ein Blick in die goldbraunen Augen in diesem fesselnden Gesicht, und die Zeit war stehen geblieben. Als die Uhren wieder zu ticken begannen, war alles einen Hauch anders gewesen. Die Sonnenstrahlen waren heller, die Menschenmenge schien weniger erdrückend, und der Verlust ihrer Tasche war auf einmal keine überwältigende Tragödie mehr gewesen, sondern ein lästiges Ärgernis.
Die Begegnung mit Rafael war wie der Zusammenprall mit einem Meteor gewesen, und innerhalb erschreckend kurzer Zeit war er zum Zentrum ihres Universums geworden.
„Du bist so still … so geheimnisvoll“, hatte er sie einmal geneckt und liebkosend über ihre Lippen gestreichelt. Als sie sich scheu zurückzog, hatte er gelächelt. Anscheinend war er überzeugt gewesen, dass es ihm gelingen würde, ihr die sinnliche Reaktion zu entlocken, nach der er sich so sehnte.
Sie hingegen ahnte, dass er in ihr nie den zutiefst verunsicherten Teenager erkannt hatte, der sie eigentlich war. Er hatte nur die gut geschminkte, sehr reif wirkende junge Dame in teurer Kleidung gesehen. Nach außen war sie stets sehr sicher aufgetreten. Ihr wahres Wesen hatte er nie entdeckt.
Und sie selbst? Sie war zunächst unentschlossen, schließlich gefangen und fasziniert von der Intensität seiner Gefühle gewesen. Leidenschaft war die treibende Kraft hinter Rafaels unbeständigem Temperament. Er liebte glutvoll, er schuf betörend schöne Kunstwerke, und ebenso konnte er aus ganzem Herzen hassen …
Über diesen Gedanken fiel sie schließlich doch noch in einen unruhigen Schlaf, der Aufruhr ihrer Gefühle hatte sie völlig erschöpft.
Am nächsten Morgen rief sie Angela an und bat sie, erneut auf die Kinder aufzupassen. Die Überraschung des Mädchens wunderte Sarah nicht, denn samstags nahm sie die beiden immer zu ihren Großeltern mit, ein feststehendes Ritual, das aber im Grunde niemandem zusagte. Zwar beklagten ihre Eltern bitter, dass sie nur so wenig Zeit mit den Enkeln verbringen durften, doch innerhalb einer Stunde tauschten sie kleine Blicke aus und kritisierten Sarahs Erziehungsstil. Die Zwillinge, die die Ausgelassenheit und Lebhaftigkeit ihres Vaters geerbt hatten, verstummten in der Atmosphäre unterdrückten Missfallens.
Das Versprechen eines frühen Sommers lag in der Luft, und die Sonne strahlte schon von einem klaren Himmel, als Sarah wenig später losfuhr. Normalerweise genoss sie die Fahrt nach Southcott Lodge, zumal sie ihr Auto fast ausschließlich am Wochenende benutzte. Es hatte ihrer Großtante Letitia gehört und fuhr dank guter Wartung immer noch prima. Sie bezweifelte allerdings, dass sie finanziell imstande wäre, das alte Gefährt zu ersetzen, wenn es Probleme machte.
Die Inflation hatte ihr Einkommen aus dem kleinen Treuhandvermögen ihrer verstorbenen Großmutter beträchtlich geschmälert. Daher arbeitete Sarah an fünf Vormittagen als Empfangsdame bei einer großen Versicherung, während Gilly und Ben den Kindergarten
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