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anderbookz Short Story Compilation

anderbookz Short Story Compilation

Titel: anderbookz Short Story Compilation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas M. Disch , Doris Egan , Gardner Dozois , Jack Dann , Michael Swanwick , Tanith Lee , Howard Waldrop , Katherine V. Forrest
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bittet.«
    »Könnten Sie in diesem Augenblick ein Gedicht schreiben? Über das, was gerade in Ihren Gedanken vor sich geht?«
    »Sicher, ohne Schwierigkeit.« Sie ging zum Schreibtisch in der Ecke des Zimmers und schrieb rasch das folgende Gedicht nieder. Sie gab es Barry:

Reflex
Manchmal suggeriert die Wiederholung dessen,
was wir gerade gesagt haben,
eine neue Bedeutung,
von der wir anfangs nicht wußten,
daß sie vorhanden war.
Wir glauben, daß wir unsere eigenen Worte verstehen,
dann müssen wir erkennen, daß dem nicht so ist,
denn was sie wirklich bedeuten
dämmert uns erst beim zweiten Mal.

    »Ist es das, woran Sie gerade gedacht haben?« fragte er skeptisch.
    »Sind Sie enttäuscht?«
    »Ich dachte, Sie würden etwas über mich schreiben.«
    »Hätten Sie gern, daß ich das tue?«
    »Es ist wohl zu spät jetzt.«
    »Nein, keineswegs.«
    Sie kehrte zum Schreibtisch zurück und kam schon nach kurzer Zeit mit einem zweiten Gedicht wieder.

Aubade
Es schmerzt mich zu hören,
daß du gehen mußt.
Ach, du mußt nicht?
Dann schmerzt mich dies.

    »Was bedeutet der Titel?« fragte Barry mißtrauisch und hoffte, die Antwort würde den unfreundlichen Gehalt des Vierzeilers modifizieren.
    »Eine Aubade ist eine traditionelle Versform, die ein Liebender oder eine Liebende seiner (oder ihrem) Liebsten im Morgengrauen widmet, wenn dieser oder diese zur Arbeit muß.«
    Barry suchte nach einem Kompliment, das nicht völlig unaufrichtig war. Schließlich entschloß er sich zu einem »Gewaltig«.
    »Ach, ich fürchte, daß es nicht allzu viel taugt. Meistens bin ich besser. Es liegt wohl daran, daß ich mich Ihnen noch nicht genug anvertrauen kann. Obwohl Sie ganz nett sind; aber das ist eine andere Sache.«
    »Jetzt bin ich auf einmal nett! Ich dachte schon ...« - er hielt das Gedicht an einer Ecke und winkte damit -, »Sie wollten mir einen Wink mit dem Zaunpfahl geben, daß ich gehen soll.«
    »Unsinn. Sie haben ja noch nicht einmal Ihr Bier ausgetrunken. Sie dürfen nicht alles für bare Münze nehmen, was ich schreibe. Dichter können nicht für alles verantwortlich gemacht werden, was sie in ihren Werken schreiben. Gezwungenermaßen sind wir allesamt Verräter, wußten Sie das?«
    Barry sagte nichts, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht wies deutlich auf seine Mißbilligung hin.
    »Nun stellen Sie sich doch nicht so an. Verrat ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Gewerbes, genauso wie die Art des Umgangs mit Mülltonnen den Müllmann verrät. Manche Dichter machen viel Wind darum, ihren Verrat zu verschleiern. Meine Vorstellung geht dahin, dagegen nicht anzukämpfen, sondern gleich jeden von Anfang an zu verraten.«
    »Haben Sie eigentlich viele Freunde?« fragte er mitleidig.
    »Im Grunde genommen keinen. Glauben Sie, ich würde herumlaufen und in Tante-Emma-Läden Selbstgespräche führen, wenn ich Freunde hätte?«
    Verblüfft schüttelte er den Kopf. »Ich sage Ihnen was, Madeline, das ergibt alles für mich keinen Sinn. Sie brauchten doch nur zu den anderen Dichtern nett zu sein, dann wären sie auch sicher nett zu Ihnen. Das ist doch das ganze simple Prinzip des ›Wie du mir, so ich dir‹.«
    »Oh, natürlich. Unbedeutendere Poeten machen das so. Die schwärmen nur . Ich will lieber bedeutend sein und allein, vielen herzlichen Dank.«
    »Das hört sich aber sehr arrogant an.«
    »Das ist es auch. Ich bin arrogant. C’est la vie. « Sie nahm einen tiefen Zug aus der Schlitz-Dose, die in ihrem Hals gluckste, und setzte wieder ab. Die Dose war leer. »Was ich an Ihnen mag, Barry, ist die Tatsache, daß Sie es fertigbringen, das zu sagen, was Sie denken, ohne verletzend zu werden. Warum?«
    »Warum ich sage, was ich denke? So ist es am einfachsten.«
    »Nein, warum sind Sie mir gegenüber so entgegenkommend, obwohl ich so unausstehlich bin? Suchen Sie nach einem Gutachten?«
    Er errötete. »Ist das so augenfällig?«
    »Nun, da Sie weder ein Tölpel sind noch mich vergewaltigen wollen, bleibt nur noch dieser Grund übrig, warum Sie einer verdrehten alten Frau nach ihrem letzten Nervenzusammenbruch in ihr Haus folgen. Wir machen ein Geschäft, ja?«
    »Was für ein Geschäft?«
    »Sie bleiben hier und geben mir dadurch den Anstoß für weitere Gedichte. Es kribbelt mir zwar schon in den Fingern, aber ich brauche noch eine Muse, die mich küßt. Wenn ich von Ihnen zwanzig gute Ideen für Gedichte bekomme, gebe ich Ihnen Ihr Gutachten.«
    Barry schüttelte den Kopf. »Zwanzig verschiedene Ideen?

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