anderbookz Short Story Compilation
»Das ist ein Vogel«, rief ich erfreut aus.
»Mmh. Eine Möwe. Eine Arbeit aus Chalcedon. Von einem unbekannten japanischen Künstler in den späten siebziger Jahren des Neunzehnten Jahrhunderts geschaffen. Etwa ein Jahrhundert lang machte sie ihren Weg durch eine Reihe kleiner Museen und Ausstellungen. Dann erst wurde sie ernsthaft beachtet. Seitdem ist ihr Wert fortschreitend gestiegen ... Inzwischen ist sie unbezahlbar.«
»Wir werden sie also bergen? Das scheint mir nicht schwierig zu sein. Wer war der ›unbekannte Künstler‹?«
»Er blieb tatsächlich unbekannt. Ich versuchte, allen Spuren nachzugehen, um die Herkunft der Skulptur zu klären, aber sie wurde zu einer Zeit schlechter Beobachtungsbedingungen geschaffen. Das Zeitwetter um Kyoto war einfach entsetzlich. Ein Sturm wütete etwa sechs Jahre lang. Immerhin tauchte sie zwölf Jahre später in San Francisco auf, und von da an ist ihre Geschichte lückenlos belegt.« Er nahm die Repro wieder an sich. »Du kannst dich darauf verlassen, daß die beste Ortszeit für die Bergung 1957 ist. Seit Jahren warte ich auf einen guten Wetterbericht, und heute morgen teilten mir die Beobachter mit, daß es sich jeden Moment zu perfekten Bedingungen aufklären wird. Die Frequenz liegt uns inzwischen nahe genug, daß du mit der Beobachtung beginnen kannst. Nimm Banny mit dir ins Laboratorium und mache dich an die Kontaktaufnahme - sobald du mit dem Arzt fertig bist.«
»Gut. Und was geschieht mit Brian Cornwall?«
»Wir benutzen ihn als Außenagenten. Zum einen befindet er sich sozusagen direkt am Zeitort. Die Möwe steht in dem Museum, in dem er arbeitet. Zum anderen wird er von seiner Umgebung als reichlich wirklichkeitsfremd eingeschätzt, so daß wir uns keinerlei Gedanken darum machen müssen, ob und was er ausplaudern wird. Und seine Vergangenheit legt es nahe, daß er ziemlich empfänglich für Manipulation ist. Schau dir vorher noch mal die Akte an.«
An seinem Tonfall hörte ich, daß ich jetzt gehen könne, und so stand ich auf. »Übrigens«, fügte er noch hinzu, »ich habe schon Kontakt aufgenommen. Wundere dich also nicht!«
Warum sollte ich mich wundern? Was kümmerte es mich, wenn er schon Kontakt aufgenommen hatte?
Wir verließen zusammen das Büro, kamen ins Vorzimmer, wo Narses mit mißmutigem Gesicht saß. Mark wies ihn an: »Wie wär’s, wenn du Carol das Okay für den Arztbesuch gäbest?«
Gemächlich griff Narses in die Schublade, um nach dem Stempel zu suchen. Als er ihn in meine Handfläche drückte, sagte ich zu ihm: »Kopf hoch, Süßer, das nächste Mal könnte es dich erwischen!«
Mark grinste. Er mochte es, wenn man grob mit Narses umging. Aber auch sonst hätte ich diese Gemeinheit genossen, schlicht und einfach aus persönlicher Neigung. Als er den Stempel wieder wegräumte, fiel mir auf, daß sein Armband silbern war, mit Saphiren, gleich dem, das Mark trug. Als es mir zuletzt aufgefallen war, war es golden mit Rubinen gewesen. Die Strafmaßnahme hatte doch länger gedauert, als ich glaubte. Nun hoffte ich, daß alle Veränderungen so geringfügig sein würden.
Ich bat Banny, vor dem Laboratorium auf mich zu warten, während ich den Arzt aufsuchte. Angelo Poguno gehörte fast ebenso lange wie ich zu den Stürmern, aber arbeitete halt im medizinischen Zweig und nahm niemals direkt an den Sturmaktionen teil. Eigentlich sollte ich nur »Angelo« sagen. Es war Marks Taktik, uns auf einen Namen zu reduzieren. Das mache uns den Bürgern ähnlicher, glaubte er, - und möglicherweise auch den D’drendt. Meines Wissens bin ich die einzige, die Angelos vollen Namen kennt. Ich hatte einmal Einblick in einige Personalakten ... Irgend etwas steckt dahinter, und niemand wird je erfahren was. Schon einige Male habe ich mich darüber amüsiert, wie weit die Berichte in den Akten und die Erzählungen der Stürmer selber über ihre Vergangenheit auseinanderklafften.
»Ceece, meine Liebe, es wird auch Zeit, daß man dich von der Behandlung absetzt. Ich halte das hier schon seit Wochen für dich bereit.« Er zog eine Ampulle auf, die mit »Ceece« beschriftet war, und begann mit der Nadel herumzufuchteln.
»Ich werde ab heute auch wieder an Sturmaktionen teilnehmen.«
»Oje! Das schraubt dich doch schlimmer hoch als Drogen. Sieh’s ein, Schätzchen, du bist ein genetischer Krüppel. Du solltest wie ich im Dienstleistungszweig arbeiten. Du brauchst nur ein Wort zu sagen, und ich werde dir hier in der Medizin einen Job besorgen ...«
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