Anderer Welten Kind (German Edition)
bleiben, sagte er beim Hinausgehen, er habe noch Hausaufgaben zu erledigen.
Stefan empfing ihn kühl. Der Zusammenstoß am Vortag stand zwischen ihnen und er ließ sich nicht ungeschehen machen. Christian wusste, dass er Stefan eine Erklärung schuldig war, doch er konnte sich nicht dazu durchringen. Also blieb er schweigsam und fast zerknirscht. Stefan beobachtete ihn aus den Augenwinkeln; sein Freund war ihm ein Rätsel. Wo war die Vertrautheit geblieben, der selbstverständliche Umgang miteinander, der vollkommen frei von jeglicher Künstlichkeit war? Sie waren immer wie Brüder gewesen, unzertrennbar, und Stefan konnte sich nicht erinnern, je etwas für sich behalten zu haben. Natürlich hatten sie sich gezankt, sogar geprügelt, wenn man eine Prügelei mit Christian überhaupt als solche bezeichnen konnte, es war eher ein Gerangel und Christians offensichtliche Abneigung zuzuschlagen, hatte Stefan schließlich in die Defensive gedrängt und er hatte frustriert den Kampfplatz geräumt.
Das jetzt war etwas anderes. Das ging tiefer, das roch nach einer grundsätzlichen Auseinandersetzung. Stefan spürte die zunehmende Distanz von Christian und konnte sie sich nicht erklären, das machte ihn hilflos und Christian fühlte sich von seinem Freund entfernt, als wenn er einen Weg beschreiten würde, den sie nicht mehr teilen könnten, den er nicht mehr teilen wollte. Das Dilemma stand ihm deutlich vor Augen, er konnte ihm nicht entgehen. Von Dülmen, Malskat, das Bild, das alles ließ sich nicht teilen. Gleichzeitig wünschte er sich die Nähe von Stefan, er brauchte ihn, er war Bestandteil seines Lebens und bot ihm die Sicherheit, die ihn oft vor dem Schlingern bewahrte.
„Wollen wir anfangen?“, fragte Stefan.
In den nächsten drei Stunden konzentrierten sie sich auf Sputniks, Raketen und Weltraumwettläufe und bei der Diskussion, wer denn die Sympathien hätte, die flinken Russen, die ganz neue Perspektiven eröffneten, wenn man in den Sternenhimmel schaute, oder die Amerikaner, die mit ihrem Rock ’n’ Roll die Erde beglückten, fiel ihnen die Wahl nicht schwer und zwischen ihnen funkte es wieder und sie beendeten den späten Nachmittag mit Bill Haleys Rock around the Clock. Natürlich besaß Stefan einen Kombi-Radio-Schallplattenspieler mit einem Zehnerwechsler und hatte schon die Scheibe von seinem Taschengeld erstanden.
Der Union Phono Super war der Grund, weshalb sie sich lieber in der Wohnung der Kremers trafen als in dem spärlich funktional eingerichteten Jungenzimmer von Christian, in dem eine von Fritz Lorenz erzwungene Ordnung herrschte, sodass der Raum beinahe unbewohnt wirkte. Fritz Lorenz veranstaltete manchmal Schrankkontrollen, in denen die Hemden ausgerichtet übereinander mit einer Kante von zwei mal dreißig Zentimetern liegen mussten und die er mit einer schnellen ausholenden Handbewegung aus dem Schrank fegte, wenn sie das Maß nicht erfüllten. Nachkontrollieren musste er nie. Christian faltete sie dann über einem Lineal zusammen und hasste seinen Vater. Noch mehr hasste er sich dafür, dass er sich diesen Ordnungsfanatismus zu eigen gemacht hatte, der ihm zur zweiten Haut geworden war. Manchmal ließ er absichtlich Dinge herumliegen, Bücher aufgeschlagen, Schranktüren offen. Aber schon nach kurzer Zeit hielt er es nicht mehr aus und schuf sich die Ordnung, die ihm die nötige Sicherheit verlieh.
Als Christian seine Sachen zusammenpackte und sich anschickte zu gehen, jetzt beinahe mit dem Gefühl der alten Vertrautheit, drehte sich ein Schlüssel in der Haustür und Herbert Kremers Schnaufen drang bis zu den Jungen. Stefan hielt Christian noch einen Moment zurück, er wollte abwarten, bis Herbert Kremer im Wohnzimmer verschwunden war. Der Treppenaufgang bis in den ersten Stock machte ihm zu schaffen und er rang nach Luft und war die ersten Minuten kaum ansprechbar. Sie hörten, wie er sich des Mantels entledigte und das Holz des Eichenbügels gegen die Garderobe schlagen. Der Stock mit seinem Gummifuß knirschte an der Fußbodenleiste, als er sich wieder in Bewegung setzte. Herbert Kremers Prothese setzte hart auf. Ein paar Schritte nur und sie vernahmen ein Plumpsen und ein tiefes Luftausstoßen. Herbert Kremer war angekommen. Seine Frau hielt sich zurück, ging ihm nicht entgegen oder empfing ihn an der Tür, weil sie wusste, dass ihr Mann es unerträglich fand, Hilfe anzunehmen oder, bevor er sich sortiert hatte, auf sie oder das, was sie ihm mitzuteilen hatte, reagieren zu
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