Anderer Welten Kind (German Edition)
mich so, dass ich mir diese Büchlein geleistet habe. Hier kann ich mich doch ganz und gar aussprechen. Franz der versteht, oder will mich in so vielem doch nicht verstehen. Jeden Tag will ich 2 Seiten schreiben. Also für heute Schluss.
Treuberg, Freitag d. 20. Februar 25
Gestern konnte ich leider nicht schreiben, da wir den ganzen Tag unterwegs waren. Doch heute will ich es nachholen. Die neue Gabi ist nicht gekommen. Diejenige die Lafrenz schicken wollte hat sich das Bein verrenkt. Anscheinend wollte sie nicht kommen. Nun will er eine andere schicken, die voriges Jahr bei Wolf engagiert war. Sie war glaube ich das Verhältnis von Schulz. Ich habe versucht gegen meine Eifersucht anzukämpfen und ich hoffe, dass es mir etwas gelungen ist. Ich habe jetzt keine so große Angst vor der Gabi. Was kommen soll kommt doch. – Gestern waren Franz und ich nach Allenstein gefahren. Wir haben auf der ganzen Fahrt fast kein Wort miteinander gewechselt, weil wir verzankt waren. Ach dieses ewige Zanken! Später haben wir uns dann Gott sei Dank vertragen. Gestern spielten wir in Johannisburg. Es war eine grosse Pleite. Wir wohnten alle im Gasthaus. In einem eisigkalten Zimmer mussten wir schlafen. Sonntag fällt wieder ein Tag aus. Dann fahren Franz und ich hoffentlich nach Hause. Mutti, Gisela, Erwin, Friedrich und ich wollen in die komische Oper gehen. Es wird ein Kinderschauspiel gegeben. Ich bin sehr gespannt, was Friedrich für ein Gesicht machen wird. Doch nun für heute Schluss.
Manche Worte ließen sich kaum entschlüsseln, andere waren falsch geschrieben. Seine Großtante, eine fahrende Schauspielerin? Das schoss ihm jedenfalls sofort in den Kopf. In einem Orchester hätte er sie nicht angesiedelt. Die Beherrschung eines Musikinstruments in seiner Familie? Es wurde geradezu darauf herumgeritten, wie unmusikalisch doch beide Familien seien, weswegen es auch vollkommen abwegig sei, einem der Kinder ein Instrument in die Hand zu drücken. Er wurde ganz aufgeregt bei dem Gedanken, denn nichts hatte bisher darauf hingewiesen, dass ein Familienmitglied eine Geschichte hätte vorweisen können, die anders verlaufen wäre als die der anderen. Die Biografien der Verwandten ähnelten denen seiner Eltern: Schule, Lehre, Krieg, Flucht, Familie, neues Leben aufbauen. Er merkte, dass er eigentlich gar nichts wusste über „seine Leute“, so nannte Stefan seine Familie immer, oder auch „Stamm“, ein Wort, dem Christian nichts abgewinnen konnte, da lag ihm zu viel Zugehörigkeit drin und zu wenig Distanz. Sofort war er für seine Großtante eingenommen und er konnte es kaum erwarten weiterzulesen.
Doch die Zeit hatte ihn eingeholt, Stefan wartete und er konnte es sich nicht leisten, ihn noch einmal zu versetzen. Er musste sich losreißen.
Das Schloss des Tagebuches schnappte zu. Ganz vorsichtig packte es Christian wieder ein, sorgfältig darauf bedacht, die vorgegebene Ordnung einzuhalten. Es waren keine neuen Falten und Knicke dazugekommen. Er zögerte, es wieder unter den Wäschestapel zu schieben. Warum sollte ausgerechnet heute seine Mutter danach schauen? Und wer weiß, wann er wieder ungestört an das Buch käme? Das Risiko schien ihm gering, er nahm das Päckchen und versteckte es in seinem Zimmer unter seinen Sportsachen. Heute Abend würde er weiterlesen.
Das Wetter hatte sich inzwischen zu einem Sturmtief entwickelt. Eisige Böen peitschten pfeifend um die Häuser und Straßen und die jungen Pappeln in der Folke-Bernadotte-Straße bogen sich, als wenn sie einen expressionistischen Tanz aufführten. Vereinzelt lagen zersprungene Dachziegel auf den Bürgersteigen und Christian kämpfte sich nah am Straßenrand auf dem Gehweg voran. Zum Glück waren es nur ein paar hundert Meter, um das Rondell mit dem Spielplatz und der Parkanlage zu umgehen und an den Sportplätzen und der Albert-Schweizer-Schule vorbei in den Heinrich-Mann-Ring zu gelangen.
Stefan hatte ihn schon erwartet, denn sofort nach dem Klingeln öffnete er die Haustür. Er nickte kurz, drehte sich um und stapfte zurück in sein Zimmer am Ende des langen Flures, von dem alle anderen Räume abgingen. Christian folgte ihm wenig enthusiastisch. Unmittelbar nach diesem kurzen Blickwechsel hatte sich sein schlechtes Gewissen eingestellt. Die Wohnzimmertür war halb geöffnet und Hildegard Kremer rief von der Couch, auf der sie saß und Kartoffeln schälte:
„Tag, Christian, bleibst du zum Essen?“
Christian öffnete die Tür ganz und trat ins Wohnzimmer,
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