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Anderer Welten Kind (German Edition)

Anderer Welten Kind (German Edition)

Titel: Anderer Welten Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Ehmer
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froh, Tante Hildegard guten Tag sagen zu können, bevor er mit Stefan in einem Raum sitzen musste. Sie war einige Jahre älter als seine Mutter und Stefan war ein Nachzügler, dessen Platz auf dieser Welt gar nicht vorgesehen war. Ein Unfall, wie Ingeborg einmal gesagt hatte. Ein Unfall, der umhegt und umpflegt wurde und den die geballte Ladung elterlicher Liebe durch sein junges Leben trug. Jeder Wunsch wurde ihm erfüllt, geradezu von den Augen abgelesen, und obwohl die pekuniäre Situation bei den Kremers ähnlich knapp bemessen war wie die der Familie Lorenz, trug Stefan immer bessere Kleidung und hatte mehr Spielsachen als Christian. Bei der Lehrmittelfreiheit blieben seltsamerweise Stefans Eltern stur, sie beharrten darauf, dass Stefan sie in Anspruch nahm. Es sei nichts Schändliches daran, arm zu sein, und sie würden sich eh schon genug nach der Decke strecken, um Stefan die höhere Schulbildung zu ermöglichen. In Wirklichkeit waren sie der Meinung, die Stadt könne sich ruhig um die Flüchtlingsfamilien kümmern, immerhin leisteten sie einen beträchtlichen Anteil am Wiederaufbau, seien weiß Gott schuldlos in die Situation geraten und hätten alles aufgeben müssen bei der Flucht. Im Gegensatz zu Christian empfand Stefan den jährlichen Gang in die Materialkammer der Schule nicht als Schmach, dafür war sein Stand in der Klasse zu gefestigt.
    Frau Kremer, geborene Sülten, war eine schlanke Frau um die fünfzig. Falten zogen ihren Mund nach unten, der nicht grämlich wirkte, eher ein wenig schlaff. Wenn sie sprach, bildeten die Falten immer neue Kompositionen der Mundpartie und aus einem Gesicht wurden viele. Ihre dunklen, braunen Augen blitzten und die geschwungenen, dichten Brauen gaben dem Gesicht etwas Südländisches. Dieser Eindruck wurde durch die leicht gebogene Nase und einen Flaum auf der Oberlippe unterstützt, was ihr einige Male „in den dunklen Jahren“, wie sie sich dem neuen Sprachgebrauch entsprechend auszudrücken pflegte, den Verdacht eintrug, keine reine arische Familientradition nachweisen zu können. Die Stammbücher bewiesen jedoch drei Generationen reinsten deutschen Blutes. Heute konnte sie in Gesprächen davon profitieren, wenigstens in den Dunstkreis von Anschuldigungen geraten zu sein, es ehrte sie beinah. Sie trug ihre Haare zu einem Knoten gebunden und der Haaransatz war grau und graue Strähnen durchwirkten das straff gekämmte Haar. Manchmal raffte sie sich auf, es dunkelbraun zu tönen, aber meistens ließ sie es so, wie es war.
    Es sei halt die Natur, meinte sie lakonisch zu ihrem Mann, dem es so recht war.
    Familie Kremers Wohnzimmer hatte das Flair eines Antiquitätengeschäfts. Es war vollgepfropft mit Nippes und Bildern mittelalterlicher Landschaften und Porträts. Überall standen Bilderrahmen herum, in denen sich der gesamte Kremer- und Sülten-Stamm präsentierte. Steife, starr in die Kamera blickende, ernste Menschen, oft Hochzeitsbilder. Auf einem Foto sah man Herbert Kremer in der Uniform der Waffen-SS, aufgenommen in einem Fotostudio. Auch damals schon ein kleiner, dicklicher Mann. Um den Mund ein angedeutetes Lächeln, auf dem Helm die Runen.
    In einem Schrank mit Glasfenstern war Teegeschirr aufgestellt, dünnwandige Porzellantässchen mit einem Rosenmuster, sechs Stück, Tasse, Untertasse, penibel ausgerichtet. Das restliche Service sauber nach Größe sortiert dahinter. Kleine Teelöffel mit einem Wappen am Stiel hingen an einem silbernen Galgen.
    Die Möbel im Gelsenkirchener Barock waren dunkel gebeizt, schwere Sessel und eine riesige Couch mit dunkelrotem Stoff bespannt. Vorhänge aus dem gleichen Stoff, die von Kordeln zusammengerafft waren, vervollständigten das Interieur. Teppiche mit orientalischen Mustern dämpften die Schritte. Da das Wohnzimmer nicht mehr als sechzehn Quadratmeter umfasste, wirkte der Raum überladen und man musste sich zu den Sitzmöbeln durchschlängeln. Nur der Sessel, den Herbert Kremer für sich beanspruchte, stand ein wenig abseits und war von der Tür aus direkt zugänglich, sodass er sich umstandslos in das Möbel hineinwerfen und die Prothese so platzieren konnte, dass sie nirgendwo anstieß. Seinen Stock behielt er stets in Griffnähe am Fuß des Sessels und er lag dort wie ein treuer Hund zu Füßen seines Herrn.
    Nachdem sich Hildegard Kremer nach Schule und Familie erkundigt hatte und das Wetter geziemend gewürdigt war, blieb Christian nichts anderes übrig, als zu Stefan zu gehen.
    Zum Essen könne er nicht

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