Anderer Welten Kind (German Edition)
auseinanderstoben, und erst, als Christian, Fritz und Renate das Haus verlassen hatten, sackte Ingeborg auf der Couch im Wohnzimmer zusammen und überließ sich ihrer Traurigkeit, in der eine Spur Verzweiflung mitschwang.
Weihnachten stand vor der Tür, noch eine Woche, und sie hatte keine Vorstellungen, wie bis dahin der Familienfrieden wiederhergestellt werden könnte. Sie hatte gehofft, dass das Tagebuch doch wieder auftauchte, hatte noch einmal alle Schränke ergebnislos durchsucht und Fritz, als er wieder mit Tante Hermines Brief angefangen hatte, in einem zornigen Anfall gedroht, wenn er nicht sofort damit aufhöre, würde sie ihn verlassen. Danach hatte sich Fritz, der die Entschlossenheit seiner Frau spürte, grummelnd und ohne gute Nacht zu sagen, auf die Seite gedreht und ihr bis zum Morgen den Rücken zugewandt.
Von Christian war sie enttäuscht. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie den gestrigen Tag rückgängig hätte machen können. Dieses Tagebuch hing über ihrem Verhältnis wie ein Damokles-Schwert und das konnte sie nicht ignorieren. Was war bloß in den Jungen gefahren! Sie würde also in ihrem Antwortbrief an Tante Hermine das Tagebuch und die Tasche nicht erwähnen.
Sie schaute sich um, alles stand an seinem Platz. Der Adventskranz auf dem Esstisch fing schon an zu nadeln, drei der vier Kerzen waren heruntergebrannt. Vicky Baums Menschen im Hotel stand ausgelesen in der Bertelsmannreihe im Regal, das neue Buch hatte sie noch nicht begonnen. Ernest Hemingways Wem die Stunde schlägt lag wie ein Versprechen mit einem Schutzumschlag aus Zeitungspapier auf dem Sideboard. Sie war ein bisschen misstrauisch gegenüber dem Thema des spanischen Bürgerkriegs, hatte aber schon Der alte Mann und das Meer gelesen und war von der Sprache und dem Realismus der Darstellung mehr als nur angetan.
Ingeborgs Pragmatismus siegte. Es gehörte sich nicht, sich so gehen zu lassen. Sie hatte schon ganz andere Sachen durchgestanden. Es war nicht ihre Art. Es würde sich schon alles einrenken. Sie atmete tief ein und drückte das Kreuz durch. Dann überließ sie sich der tröstenden Routine der Hausarbeit, holte den Vorwerk-Staubsauger aus der kleinen Kammer neben der Haustür und begann, sorgfältig die Nadeln aufzusaugen. Anschließend wischte sie Staub und schnitt aus alten Lübecker Nachrichten das Toilettenpapier zurecht, lochte es mit einem Vorkriegsmodell eines Lochers, den Fritz eines Tages aus dem Büro mitgebracht hatte, und zog eine Kordel durch das Loch. Endlich setzte sie sich mit Kugelschreiber und Zettel bewaffnet an den Couchtisch und erstellte die Einkaufsliste für die Weihnachtstage. Die Gans lag schon seit vorgestern gut in Zeitungspapier eingeschlagen im Bräter auf dem Balkon. Das Königsberger Marzipan war noch nicht ausgepackt. Das wäre einer der letzten Handgriffe, bevor sie und Fritz die bunten Teller füllten und die Kinder ins Weihnachtszimmer riefen. Es blieb übrigens immer ein Geheimnis, woher die Eltern das Marzipan bezogen. Für die Familien Lorenz und Kremer stammte es aus Königsberg und ließ das Lübecker Marzipan in Geschmack, Konsistenz und gefühlsbedingter Besetzung weit hinter sich.
Christian war wie gerädert. Er hatte in der Nacht kaum ein Auge zugemacht, hatte sich mit seinen wälzenden Gedanken hin- und hergeworfen, es hatte nichts genützt. Ihm war keine rettende Idee gekommen, wie er die Folgen des gestrigen Tages hätte mildern können. Der Nebel hatte sich nicht verzogen, nicht im Kopf und nicht in den Straßen, in denen der Dunst wie eine dicke Brühe hing. Er musste sehr angestrengt auf den Weg achten, um nicht gegen die Bordkantsteinkante zu knallen. Er wusste nur, dass er heute Helga gegenüberstehen und ihrem Urteil ausgesetzt sein würde, und hatte sich in nicht enden wollenden nächtlichen inneren Monologen vorgenommen, ihr in Ruhe zu erklären, was ihn gestern geritten hatte, und er hoffte inständig, er fände den richtigen Ton. Dass ihn vor allem das historische Phänomen interessiert hätte – das Wort Liebe wollte er erst gar nicht in den Mund nehmen – und dass er mit ihr zusammen sein wollte. Seinen Pausenauftritt wollte er nicht verteidigen, er wüsste nicht, was in ihn gefahren sei. Vielleicht würde er sogar zugeben, dass er schon bei seiner Fragerei bemerkt hätte, dass da was verquer liefe.
An diesem Morgen fehlte Helga in der Schule. Erleichtert ließ er sich neben Hartmut Gericke auf seinen Stuhl plumpsen, der ihm die Hand hinstreckte,
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