Anderer Welten Kind (German Edition)
Mal nicht als dummer Junge. Sie hatten sich unterhalten wie zwei Erwachsene. Stolz keimte auf.
Die Dämmerung setzte ein, als er in den Fußweg vor dem Mietshaus einbog. Der Nebel hatte sich immer noch nicht verzogen und erst im letzten Augenblick bemerkte er die schwankende Gestalt, die auf die Haustür zusteuerte. Es war sein Vater, sturzbetrunken und kaum noch fähig, sich auf den Beinen zu halten. Jetzt stützte er sich mit der linken Hand an dem Laternenpfahl auf dem Gehweg ab und sein Kopf pendelte hin und her. Dabei stöhnte und lallte er mit schwerer Zunge: „Isch mir schlecht, isch kotz gleisch.“ Sein Oberkörper klappte nach unten, die Knie blieben durchgedrückt und gaben nicht nach, aber außer einem Gewürge und sabbernden Speichelfäden brachte er nichts heraus. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er sich mit dem freien Handrücken über den Mund, beförderte die Spucke ans Kinn, so dass sie als ein dünner Schleimfaden an ihm heruntertropfte.
Christian graute sich vor dem Anblick, den sein Vater ihm bot. Er konnte sich nicht verhalten. Er konnte sich nie verhalten, wenn sein Vater betrunken war; es war ihm widerlich und machte ihm Angst. Betrunken erkannte er ihn nicht wieder. Das war schon immer so. Die Fremdheit, die er dann spürte, die in der zunehmenden Distanzlosigkeit des Vaters mit Angrapschen und Redeschwallen und ungewohnten Vertrautheiten das Bild, das er im nüchternen Zustand darstellte, ins Gegenteil verkehrte, wuchs mit dem Rausch und der damit einhergehenden Aufgabe der Contenance seines Vaters. Da war es ihm schon lieber, dass der Vater, was immer öfter vorkam, ihm im alkoholisierten Zustand seine Enttäuschungen über ihn und den Rest der Familie ausspie.
Er schämte sich für ihn, gleichzeitig versuchte er zu ignorieren, was er sah. Sein Vater hatte ihn noch nicht bemerkt. Ihn durchschüttelte gerade ein neuer Brechreiz und Christian nutzte die Situation aus, sein Rad schnell an ihm vorbeizuschieben, die Haustür zu öffnen und die Kellertreppe hinunterzustürzen. Er ließ das Rad unangeschlossen unter der Treppe stehen und nahm zwei Stufen auf einmal, um vor seinem Vater oben anzukommen. Am ersten Treppenansatz erwischte es ihn. Fritz Lorenz stand in der Haustür und das „Krischan!“ durchbohrte ihn. Es war nicht laut, nicht betont, sondern schlappte breiig ins Nichts gelallt. Dennoch traf es Christian ins Mark, den ein Fluchtimpuls weg von seinem Vater trieb, nach oben in den dritten Stock, durch die Wohnungstür in den Flur in sein Zimmer. Dort stand er zitternd und lauschte. Ingeborg rief aus dem Wohnzimmer „Christian, bist du das?“, und als er nicht antwortete, kam sie heraus und wollte gerade seine Zimmertür öffnen, als es an der Wohnungstür Sturm klingelte und sie erschrocken die Richtung änderte.
Mit dem Öffnen der Tür fiel ihr ihr Mann entgegen.
„Isch kann nicht mehr, ich muss misch übergeben, Enschulligung“, nuschelte er, „mir wir schlecht.“
Unter Würgen und Krämpfen schleppte er sich in den Armen seiner Frau ins Schlafzimmer und erst als er auf dem Bett lag, auf das sie ihn unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft bugsiert hatte, und nachdem sie gerufen hatte „Christian, ein Eimer!“, wagte sich Christian hervor und stellte einen mit Wasser gefüllten Zinkeimer neben das Ehebett seiner Eltern. Danach stand er unschlüssig in der Tür und wusste nicht, ob er sich wieder zurückziehen sollte.
Seine Mutter hielt den Kopf ihres Mannes, als der sich endlich erbrach und in einem stark nach Schnaps riechenden Schwall Halbverdautes in den Eimer würgte. Er übergab sich so lange, bis nur noch grünliche Galle seine Mundwinkel herunterrann, um dann erschöpft in das Kissen zu sinken und leise vor sich hin zu weinen und zu wimmern, wobei die Tränen am Nasenrücken und in den Mundfalten in einem dünnen Rinnsal eine feuchte Spur hinterließen und in kleinen Tropfen seitlich am Hals das Kissen benetzten.
„Ischämichso“, wiederholte er flüsternd mehrere Male, während Ingeborg ihm mit einem Lappen, den sie in kaltes Wasser getaucht und ausgewrungen hatte, Mund und Gesicht abwischte und ihm ein Glas Wasser einflößte. „Ist schon gut“, sagte sie und strich ihrem Mann über das Haar, das feucht auf der Stirn klebte. Sie war gerührt von seiner Hilflosigkeit. Dann wandte sie sich an Christian und fragte: „Hast du Papa nicht gesehen?“ und langsam dämmerte ihr, wie sich Christian verhalten hatte. Ihr Gesicht versteinerte, sie beugte sich
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