Anderer Welten Kind (German Edition)
nur alles abstreiten.
„Mama, ich schwör dir, ich weiß von keinem Tagebuch.“
Er wiederholte stereotyp seinen einzigen Satz; ein anderer fiel ihm nicht ein. Dass die Eltern seine Durchsuchungsaktionen bemerkt hatten, war ihm sehr unangenehm. Er fühlte sich wie ein begossener Pudel, mehr noch, wie ein auf frischer Tat erwischter Dieb. Es war ihm so peinlich, dass sie wusste, dass er ihre Wäsche durchwühlte, und er spürte, wie er einen knallroten Kopf bekam, und konnte seiner Mutter nicht in die Augen schauen, versuchte sich herauszuwinden, indem er dasaß und mit dem Kopf schüttelte und, hätte es nicht allzu theatralisch gewirkt, er hätte auch noch mit den Händen gerungen.
„Wie sah es denn aus?“, fragte er, aber er erntete nur einen stummen Blick.
Ingeborg zog ihren Rock über ihre stämmigen Oberschenkel und runden Knie glatt und wischte geistesabwesend mit den Handflächen immer wieder darüber. Sie war noch stadtfein angezogen, dunkelblauer Rock, hellblaue Bluse mit einem kleinen Stehkragen, dessen oberster Knopf jetzt geöffnet war. Mit der Halbtagsstelle war es nichts geworden, sie sollte sich im neuen Jahr wieder melden. Aber daran dachte sie jetzt nicht.
Ihre Fingernägel waren frisch lackiert, dunkelrot und perfekt in ihrem satten Glanz und den gefeilten Nägeln. Die Nagelhaut am rechten Mittelfinger war leicht gerötet, als ob sie zu viel Häutchen entfernt hätte. Christian starrte auf die Hände, als lägen in ihnen die Rettung.
„Christian, lüg mich nicht an. Es ist schon schwer genug zu glauben, dass mein eigener Sohn in meinen persönlichen Sachen schnüffelt. Sollen wir denn alles abschließen? Ich habe deinen Vater gebeten, nichts zu sagen, bevor ich mit dir geredet habe. Dann, na ja, dann haben wir es vergessen. Aber das mit dem Tagebuch ist eine andere Sache.“
Sie beugte sich vor und beobachtete ihren Sohn. Sie hatte es nicht vergessen, aber sie fand es im Großen und Ganzen doch ziemlich harmlos, wenn sich ihr sechzehnjähriger, pubertierender Junge einen Überblick über die Wäsche und Gerüche einer erwachsenen Frau verschaffen wollte. Er konnte sie ja schlechterdings fragen: „Mama, zeig mal, ob du schwarze Strumpfhalter hast.“ Und der Empörung ihres Mannes hatte sie ein Lächeln entgegengesetzt und ein „Nun beruhige dich mal wieder, es ist doch nichts passiert.“
Renate hatte das Tagebuch ganz sicher nicht, das war nicht ihre Art und ihre Neugierde war echt gewesen. Fritz wusste von dem Tagebuch nichts. Sie hatte es ihm verheimlicht, er hätte darauf bestanden, es wieder loszuwerden, so voller Hass war er auf alles und jeden, der mit Franz etwas zu schaffen gehabt hatte.
Es war ja auch ein dummer Zufall, wie sie an das Buch gekommen war. An dem letzten Abend, als Tante Hermine entschieden hatte, auf Franz zu warten, hatte sie eine kleine Tasche vergessen, die Ingeborg an sich genommen hatte mit der Absicht, sie ihr bei nächster Gelegenheit wieder auszuhändigen. Nun, die nächste Gelegenheit hatte es nicht mehr gegeben, sie hatten sich nicht mehr gesehen. Tante Hermine wusste wahrscheinlich gar nicht, dass die Tasche in ihrem Besitz gelandet war. Ingeborg nahm sie mit nach Lübeck. Nach Monaten und der Zunahme der Spannungen zwischen Ost und West zerstob die Hoffnung auf ein Wiedersehen.
In der Tasche befanden sich außer ein paar Habseligkeiten wie einem Nachthemd, Zahnbürste, Unterwäsche nichts von Wert, außer eben dem Tagebuch, das Ingeborg, nachdem sie erfolglos versucht hatte, es zu öffnen – der Schlüssel war nicht in Hermines Tasche –, in Zeitungspapier geschlagen unter ihren Sachen versteckte, letztendlich froh, es nicht gelesen zu haben. Die intimen Äußerungen ihrer Tante, stellte sie sich vor, würden sie nur belasten. Jetzt war es weg und es konnte nur Christian gewesen sein. Sie hätte es gar nicht bemerkt, wenn nicht der Brief von Tante Hermine gekommen wäre und damit die Möglichkeit, das Buch zusammen mit dem Weihnachtspäckchen ihrer rechtmäßigen Besitzerin auszuhändigen. Sie hätte sich so gefreut, dessen war sich Ingeborg sicher.
„Komm, Christian, mach es dir und mir nicht so schwer. Ich bin auch nicht böse, ich will es Tante Hermine zurückgeben. Gib es mir und ich verspreche dir, das bleibt zwischen uns. Papa erfährt kein Sterbenswörtchen, du weißt ja, dass er nicht sonderlich erpicht auf Tante Hermine ist.“
Christian fühlte sich in die Ecke gedrängt. Dabei wäre es jetzt der richtige Zeitpunkt gewesen, reinen
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