Anderer Welten Kind (German Edition)
zu sagen und konsterniert den Rückzug anzutreten. Er hätte sich ohrfeigen können und dachte gleichzeitig „Arschlöcher“.
Auf der Straße bemerkte er nicht, als er sein Rad aufschloss, dass sich inzwischen ein dicker, graugelblicher Nebel über die Stadt gesenkt hatte und die Königstraße in ein diffuses, dunstiges Licht tauchte. Er sah auch nicht die weihnachtlich geschmückten Auslagen in den Schaufenstern, nicht die Vitrinen der Lübecker Nachrichten, die die heutige Ausgabe in hölzernen Rahmen zum Lesen anboten, nicht Weilands Buchhandlung mit den Neuerscheinungen und den Kinderbüchern zum Fest, nicht Hosen Müller, der endlich nicht nur Cord- und Stoffhosen akkurat auf Bügeln aufgehängt, sondern auch Bluejeans wie einen Fächer ausgelegt hatte. Für das Bettenhaus Hans Struve hatte er keinen Blick, obwohl er es liebte, davor stehen zu bleiben und sich Werbesprüche für die Kissen und daunengefüllten Plumeaus auszudenken, die nicht so bieder waren wie die im Schaufenster dekorativ platzierten, in der Art etwa, dass ein Plumeau jeder kalten Lebenslage den Kampf ansagt; ebenso wenig wie für die Lederwaren von Maaß, die er sonst so gern mit den Augen verschlang wie die Lederjacken im Halbstarken-Stil mit den Nieten, den silbernen Gürtelschnallen und geflochtenen Schulterstücken. Er fühlte nichts außer der stumpfen Gewissheit, dass heute ein ganz schlimmer Tag für ihn war und er so schnell wie möglich nach Hause in sein Zimmer wollte. Und er klammerte sich an den morgigen Nachmittag und an die Verabredung mit Ricky von Dülmen, dessen Art und Weise, wie er ihn behandelte, er nichts entgegenzusetzen hatte, da half selbst das „Arschloch“ nicht weiter.
Seine Mutter öffnete ihm, als er gerade den Schlüssel ins Schloss schob.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie sofort, „willst du einen Tee? Du bist aber früh dran. Wo sind denn deine Sportsachen?“
Christian wusste erst gar nicht, wovon sie sprach, dann fiel ihm aber seine Ausrede von heute Morgen ein und er sagte: „In der Schule gelassen, das Training ist ausgefallen.“
Er hatte keinen Augenblick an die Tasche gedacht und schüttelte verärgert den Kopf. Stefan war es wohl auch entgangen, dass er gar keine Trainingstasche bei sich getragen hatte, als sie zusammen die Schule verlassen hatten. Sie musste noch unter seiner Schulbank stehen.
Er wollte an ihr vorbei in sein Zimmer gehen, die Tür abschließen und allein, nur noch allein sein, den Tag Revue passieren lassen und sich seinem Elend hingeben. Aber seine Mutter hielt ihn am Arm fest und sagte: „Nicht so schnell, junger Mann, wir müssen reden. Zieh deine Sachen aus, ich mach den Tee.“
„Was hast du denn? Du bist so komisch.“
Er machte sich, eine Spur zu unwillig, los und blieb stehen. „Na, sag schon, was habe ich diesmal wieder verbrochen?“
Ingeborg schaute ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck um den Mund an, schwieg aber. Ihm wurde ganz mulmig. Dann ließ sie ihn stehen und ging in die Küche. So kannte Christian seine Mutter gar nicht. Er überlegte angestrengt, was auf ihn zukommen könnte, und war erschüttert, als sie ihn wenige Minuten später fragte, nachdem sie im Wohnzimmer auf der Couch und er in einem Sessel Platz genommen hatten und sie den Tee in ihre Tassen gegossen hatte, ob er wisse, wo das Tagebuch von Tante Hermine sei. Sie vermisse es und habe schon überall gesucht.
Damit hatte er nicht gerechnet. „Tante Hermines Tagebuch?“ Er versuchte, Zeit zu gewinnen. „Ich weiß von keinem Tagebuch. Wo soll das denn gewesen sein?“
Was machte er nur, wenn sie ihm auf den Kopf zusagte, er hätte es und sie würde jetzt sein Zimmer durchsuchen?
„Wieso kommst du denn darauf, dass ich weiß, wo es ist? Ich weiß ja noch nicht einmal, dass sie eins geschrieben hat.“
„Ich weiß, dass du meine Sachen im Schlafzimmer durchwühlst. Und außerdem hast du so blöd geschauspielert, als der Brief von Tante Hermine gekommen war und wir im Fotoalbum nach einem Bild von ihr gesucht hatten. Meinst du, Papa und mir ist nicht aufgefallen, wie du manchmal versucht hast, Geschenke, die dir nicht gefallen haben, schon Wochen vor deinem Geburtstag wieder loszuwerden?“
Er erstarrte. Bitte, lieber Gott, lass es nicht wahr sein. Es war wahr, und, obwohl er sich heute schon zum zweiten Mal an den Herrn wandte, wurde ihm keine Erleuchtung oder Hilfe zuteil. Ihm fiel absolut nichts ein, was die Vorwürfe seiner Mutter hätte entkräften können. Er konnte
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