Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
Vom Netzwerk:
sich zu mir um und durchquert mit langen
Schritten den Raum. »Ich möchte dir etwas zeigen.«
»Wann?«
»Wann immer du willst.«
»Wissen deine Eltern über uns Bescheid?«
»Nein.«
Er setzt sich auf meine Matratze, klopft mit der Hand auf den
Platz neben sich und als ich mich zu ihm setze, umfasst er mein
Gesicht mit beiden Händen. Er berührt mich so behutsam, wie
er zuvor das Bonbonglas berührt hat. Ich sehe in seine Augen,
versuche deren Schwärze zu ergründen, aber da ist nichts, nur
der Spiegel meiner Blindheit, und für den Moment ist mir dies
genug.
Er küsst mich.
EIN RAUM VON VIER MAL NEUN
    DIE BRENNNESSELN AM FUSS des Schlossturms können
sich aus eigener Kraft kaum noch aufrecht halten. Sie stehen
kreuz und quer gegeneinander gestützt wie die Lanzen müder,
abgekämpfter Soldaten. Kat und ich tragen Mäntel, es ist
empfindlich kalt. Wind zaust uns in die Haare und rötet uns
Stirn und Wangen. Der Oktober geht bald zu Ende, es ist eine
der letzten Gelegenheiten für Besucher, vor der Winterpause
den Schlossturm noch einmal zu betreten. Die vergangenen
Tage waren stürmisch. Die Kronen der Bäume sind fast völlig
kahl, wir blicken auf sie herab wie auf eine dunkle, rauschende
See aus tausend aufgespannten, löchrigen Regenschirmen. Aus
den Hügeln wälzt sich ein breites Nebelband über die Stadt. Ich
denk an eine gewaltige Rolle von grauem, fein gekörntem
Geschenkpapier, das eine Riesenhand abgewickelt hat, um
Spielzeughäuser darin zu verpacken.
    »Und, nimmst du dein Urteil zurück?«
»Welches?«
»Dass er oberflächlich ist.«
Kat zieht die Nase hoch. »Wenn er irgendwann ein bisschen
    mehr von sich rauslässt, dann vielleicht.«
»Weiße Flecken?«
»Hektarweise, schätze ich.«
Ich schaue auf den Fluss, der sich unten in der Talsenke im
nebligen Nichts verliert, matt und zähflüssig.
     
»Er lässt sich nicht so drängeln wie ich.«
    »Das steigert nur den Reiz.« Kat greift in ihre Manteltasche
und zieht etwas daraus hervor. Es ist ein aus rotem Papier
gefalteter kleiner Flieger. »Warst du schon bei ihm zu Hause?«
    »Nein. Aber er hat gefragt, ob ich ihn nicht mal besuchen
will.«
»Und?«
»Seine Eltern haben keine Ahnung. Ich hab keine Lust, ihnen
was vorzuspielen.«
»Vielleicht merkst du, dass es besser ist ihnen was
vorzuspielen, nachdem du sie kennen gelernt hast.«
»Sie wohnen am Fuchspass.« Ich zeige nach rechts, wo sich
ein hoher Hügel aus dem Nebelmeer erhebt, an den sich eine
einzige lang gestreckte Reihe von Häusern schmiegt. »Ich
dachte immer, die High Society wäre so dekadent, dass ein
Schwuler in der Familie nichts ausmacht.«
»Reichtum erzeugt nicht automatisch Toleranz.«
»Macht aber jede Art von Leiden erträglicher.«
»Sagt wer?«
»Sage ich.«
»Ach ja?« Kat lacht leise. »Dann werde ich hoffentlich nie
leiden müssen. Auf meinem Konto herrscht nämlich Ebbe.«
Der Papierflieger zischt mit einem eleganten Schlenker über
die Turmzinnen hinweg, segelt ein Stück geradeaus, dann
trudelt er nach unten, wird immer kleiner, bis seine Umrisse
sich zwischen den Baumkronen verlieren und der Nebel sein
Rot verschluckt.
AM FUCHSPASS SIND die Grundstücke grösser, die Häuser
prächtiger, die Gärten üppiger und die Zaune höher als in jedem
anderen Teil der Stadt. Der durch nichts behinderte Ausblick ins
Tal, der sich von hier oben bietet, ist grandios. Die Stadt ist ein
Meer aus ziegelroten Häuserdächern, Visible ein von winzigen
Zinnen gekrönter Klecks am anderen Ende der Welt. Ich war
bislang nur einmal hier, an einem sommerhellen Tag, als kleiner
Knirps, der seine Welt und ihre engen Grenzen mit dem Fahrrad
erkundete. Falls Gott je beschließen sollte, sein Quartier unter
den Kleinen Leuten aufzuschlagen, dann würde er, so hatte ich
damals entschieden, dafür den Fuchspass wählen. Vor den
Augen des kleinen Jungen hatte der Himmel sich wie ein
Baldachin aus tiefblauer Seide über das Land gespannt. Heute
ist er trist und grau. Ich entdecke die Hausnummer, die Nicholas
mir genannt hat, an einer geschlossenen Garage. Rechts davon
führt eine gewundene, von geduckten Sträuchern flankierte
Treppe aus schwarzen Basaltstufen nach oben. Es gibt einen
Briefkasten und eine Box für die Zeitung.
Das Haus selbst, ein verschachtelter, nach hinten abfallender
Bau aus schneeweißen Backsteinen, scheint unmittelbar aus
dem Hang herauszuwachsen. Darüber herrschen, bis hinauf zum
breiten Kamm des Hügels, nur noch wilde

Weitere Kostenlose Bücher