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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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stellte sich Glass als Fräulein Tröht vor,
teilte sehr sachlich mit, ihr Herr Vater sei vor einer Woche
friedlich entschlummert, und dann überreichte sie Glass drei
große Gläser, die bis zu den Rändern mit harten Bonbons in
allen Regenbogenfarben gefüllt waren.

»Ausdrücklich für die Kinder«, sagte Fräulein Tröht, »und
Ihnen soll ich ausrichten, Sie sollen so weitermachen wie
bisher. Wissen Sie, was er damit gemeint hat?«
    Glass nickte.
»Friedlich entschlummert bedeutet«, erklärte sie, als Dianne
und ich aus der Schule nach Hause kamen und mit den Schätzen
überrascht wurden, »dass ihr um Herrn Tröht nicht trauern
müsst. Er ist seinen Weg zu Ende gegangen, wie er ihn
zurückgelegt hat, ruhig und mit einem Lächeln auf den Lippen.«
    Nie wieder habe ich sie danach ähnlich sprechen hören.
»Ist er tot?«, fragte Dianne.
»Natürlich ist er tot«, schnaufte Glass.
»Und wird er beerdigt?«
»Selbstverständlich, Schätzchen. Jeder Mensch wird beerdigt,
    wenn er tot ist, das wisst ihr doch. So wie Terezas Vater.« Glass
zog die Nase hoch, dann zeigte sie auf die verheißungsvoll
glänzenden Gläser. »Aber Herr Tröht hat euch diese Bonbons
hinterlassen. Die dürften reichen, bis ihr mindestens so alt seid,
wie er es geworden ist.« Sie gab jedem von uns einen Klaps auf
den Po. »So, und jetzt schreibt ihr seiner Tochter einen Brief
und bedankt euch.«
    Dianne und ich nickten gehorsam, verkrochen uns mit einer
Tagesration Bonbons in unser Zimmer und schrieben dem alten
Fräulein Tröht in schönster, prallrunder Kinderschrift, sie müsse
sich keine Gedanken machen, denn ihr Vater sei zwar jetzt fort,
aber längst nicht so weit wie der Mond. Außerdem sei er der
netteste alte Kacker gewesen, den die Stadt je gekannt habe, mit
herzlichen Grüßen. Für einen Brief fanden Dianne und ich das
schon unverhältnismäßig lang – wir brauchten eine halbe
Stunde, bis wir die Sätze zusammengestoppelt hatten -, und so
blieb Fräulein Tröht die Anmerkung erspart, dass sie uns die
Bonbons auch mit der Post hätte schicken können. Wir fanden
es wirklich großartig, dass sie den weiten Weg bis nach Visible
zurückgelegt hatte, nach all der schrecklichen Plackerei, die sie
nach dem Tod ihres Vaters mit drei Kartoffelsäcken und der
Beerdigung in ihrem Garten gehabt haben musste.
    »DEN HAB ICH noch gekannt. Und es stimmt, seine
Bonbons waren Legende.« Nicholas klopft gegen das leere
Glas. »Hast du irgendwo noch welche versteckt?«
    »Alle aufgegessen. Schon vor Jahren.«
»So viele guten Taten?« Nicholas dreht das Bonbonglas
langsam, sehr behutsam, zwischen den Händen, als wäre es aus
dünnwandigem Kristall. »Tröht. An den Namen hätte ich mich
nicht mehr erinnert. Na ja, meine Mutter mochte den Laden
auch nicht besonders. War ihr zu dunkel und zu muffig.«
»Warum ging sie trotzdem hin?«
»Nur für Kleinigkeiten.« Er stellt das Glas ins Regal zurück.
»Dass du dich an all diese alten Geschichten so gut erinnerst…«
»Jeder hat solche Geschichten erlebt.«
»Ich nicht.«
Er geht an eines der Fenster und öffnet es weit. Kühle Luft
strömt in den Raum. Auf die Fensterbank gestützt, schaut
Nicholas nach draußen. Ich betrachte seinen Oberkörper, der
dunkel ist vor dem trüben Gegenlicht, wie ein Gemälde
eingefasst vom hellen Rahmen des Fensters, Schwarz auf Grau
in Weiß. Der leicht nach vorn gebeugte Rücken, die schmalen
Hüften, die zwei Hand voll fester Hintern, die langen Beine; all
das ist so perfekt; seine schwarzen Haare, die im Nacken
aufliegen und sich dort kringeln. Ich weiß nicht, warum mein
Herz sich ausgerechnet an ihn gehängt, sich für sein Schweigen
und seine irritierende Zurückhaltung entschieden hat. Ich
möchte die Arme ausstrecken, um den Abstand zwischen uns zu
verringern. Nicholas könnte sich jetzt, in diesem Augenblick,
umdrehen und das Zimmer verlassen, weil er genug von mir hat,
ohne ein weiteres Wort, ohne mich noch einmal anzusehen. Er
könnte das Opfer einer ihn blitzartig überfallenden Amnesie
werden, mich vergessen, noch ehe seine Hände sich wieder von
der Fensterbank gelöst haben. Er könnte, wie seinerzeit Stella,
aus dem Fenster stürzen – vielleicht ist es ebendieses Fenster,
unter dem sie damals mit gebrochenem Genick und aus der
Nase tropfendem Blut auf der Auffahrt lag, ich habe Glass nie
danach gefragt. Er könnte…
»Hättest du Lust, mich zu besuchen. Bei mir zu Hause?«
Nicholas dreht

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