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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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eintauscht
und was er dann mit den älteren Stücken macht. Vielleicht gar
nichts. Vielleicht besorgt er sich einfach eine neue Vitrine. Da
ist eine mattschwarze, alte Schallplatte aus Schellack, auf die
drei kleine Kreuze geritzt sind. Ein einzelner Rollschuh,
verkratzt und stark angerostet, mit rissigen roten Lederriemen.
Ein kleines Bild in einem schlichten Rahmen, das einen
Schmetterling mit bunten, irisierenden Flügeln zeigt. Eine
wunderschöne Taschenuhr mit goldener Kette, deren Deckel
fehlt. Ihr Ziffernblatt besteht aus weißem, mit haarfeinen
Pinselstrichen bemaltem Emaille, ein einziger dünner, sonderbar
gewundener Zeiger steht auf halb eins. Eine honigbraune
Hornbrille mit dicken Gläsern, an der ein irgendwann
abgebrochener Bügel mit Heftpflaster befestigt wurde. Ein
kleines, aufgeklapptes Taschenmesser, drei unterschiedlich
lange Klingen, mit perlmuttfarbenem Griff. Ein roter Schal aus
feiner, weicher Wolle, der aussieht wie frisch gewaschen. Ein
schweres silbernes Feuerzeug, auf der Hülle ein ziseliertes, vom
Gebrauch verwischtes Monogramm, das sich nicht mehr
entziffern Lasso.
Ich gehe erneut in die Hocke. Im untersten Fach der zweiten
Vitrine steht ein Kästchen aus schwerem, nussbraunem Holz,
etwa halb so groß wie ein Schuhkarton. In den Klappdeckel sind
winzige Intarsien aus Elfenbein gearbeitet.
»Wer verliert so ein Kästchen?«, sage ich zu Nicholas. »Es ist
ziemlich groß.«
»Weiß nicht.«
»War es leer, als du es gefunden hast, oder ist noch was drin?
Gibt es eine Geschichte dazu?«
»Natürlich.«
Mein Blick wandert zu der Schreibmaschine. »Hast du die
Geschichten im Kopf, oder schreibst du sie auf?«
»Die meisten schreibe ich auf.«
Zum zweiten Mal lässt er mir gegenüber seine Unsicherheit
zu. Es ist nicht mehr als ein kaum wahrnehmbares Verengen der
Augen, das rasche Abstreifen einer leicht verschwitzten Hand
an seinen Jeans. »Du findest das nicht… verrückt, oder?«
»Na ja, es gibt bestimmt weniger exotische Hobbys.« Es gibt
auch weniger unheimliche Hobbys. Die Gegenstände in den
Vitrinen machen mich nervös, und ich weiß nicht, warum. Es ist
fast so, als würden sie dazu auffordern – befehlen -, dass man
sie berührt. »Aber wie bist du auf die Idee dazu gekommen?«
»Aus Mitleid.«
»Mitleid mit ein paar Sachen?«
Nicholas zuckt die Achseln. »Erinnerst du dich, wie Händel
neulich sagte, wer die Schönheit dessen ermessen wolle, was
der Mensch erschaffen hat, müsse nach oben sehen? Dass alles
Schöne in die Höhe strebe, weil es auf diese Weise Gott am
nächsten sei«, er grinst, »auch wenn Händel persönlich das
nicht passt?«
»Klar. Kathedralen, die Pyramiden und die Spitzen von
Wolkenkratzern, die Kronen von Königen und Päpsten und all
so was.«
»Also, ich hab darüber nachgedacht«, sagt Nicholas. »Händel
hat Recht. Was ich finde, ist Verlorenes oder Fortgeworfenes.
Alles weit entfernt von Gott, wenn man so will.
Es gibt Psychologen, die behaupten, dass man nichts
unbeabsichtigt verliert, zumindest nicht unterbewusst. Auf die
eine oder andere Art ist also alles, was du hier siehst, ein
Sinnbild von Missachtung. Dinge, die nicht mehr gewollt
wurden, aus welchen Gründen auch immer.«
»Aber das hast du nicht gewusst oder gedacht, als du mit dem
Sammeln angefangen hast.«
Nicholas schüttelt den Kopf.
»Und was du dir zu den Dingen ausdenkst…«
»Sind nur irgendwelche Geschichten.«
Ich sehe ihn intensiv an. Er kann unmöglich annehmen, dass
ich ihm das glaube. »Zeigst du mir eine?«
»Welche?«
Ich greife aufs Geratewohl in eines der Fächer und ziehe die
hübsche Taschenuhr mit dem fehlenden Deckel hervor.
»Wie wäre es hiermit?«
Die Uhr wiegt schwerer in meiner Hand, als ich angenommen
hätte. Aber sie versprüht keine Funken, und sie erwacht auch
nicht auf magische Weise zwischen meinen Fingern zum Leben.
Verwundert hätte mich das nicht. Inzwischen fühle ich mich,
wie Hänsel und Gretel sich im tiefen dunklen Wald gefühlt
haben müssen, als sie entdeckten, dass ihre Spur aus
Brotkrümeln verschwunden war.
»Funktioniert sie noch?«, frage ich Nicholas. »Kann man sie
aufziehen?«
»Das gehört schon zur Geschichte. Warte.«
Er wühlt zwischen den Papieren auf dem Schreibtisch, zieht
drei Blätter daraus hervor und gibt sie mir. Ich fühle seine
Augen auf mir ruhen, als ich zu lesen beginne.
VITRINE 2
     
4. FACH VON OBEN
    VOM UHRMACHER, DER SICH IN DER ZEIT VERLOR.
In einem großen

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