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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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und dieses Leuchten nach draußen schicken. Es gibt ein
einziges, halbhohes Regal. Unter einem der Fenster befindet
sich ein kleiner Schreibtisch, darauf steht eine flache elektrische
Schreibmaschine. Überall häufen sich Zettel und Papiere,
Notizblöcke, Kladden, und verschiedenfarbige Stifte. Im
Zentrum des Raums, von allen Seiten zugänglich, stehen, wie
die stützenden Träger eines Tempeldaches, vier in offene
Fächer unterteilte Vitrinen.
Und plötzlich weiß ich, woran dieses Zimmer mich erinnert:
an den alten Keller der Schule, den ich mit Wolf erforscht habe.
Unvermittelt fühle ich mich rückwärts durch die Zeit
katapultiert und sehe das verstaubte Sammelsurium von
Ausgedientem, von Vergessenem und Überflüssigem vor mir:
die zerfledderten Bücher und Atlanten, die gläsernen
Behältnisse mit den sezierten Ratten und Fröschen, die
ausgestopften Tiere, deren glänzende, tote Knopfaugen mich bis
in meine Träume verfolgten. Hier herrscht, bei aller das Zimmer
erfüllenden Helligkeit, trotz der Abwesenheit von Staub und
Moder, eine ähnliche Atmosphäre. Über allem hegt die gleiche
Aura von Vergessenheit. Sie geht von den seltsamen
Gegenständen im Regal und vom Inhalt der vier Vitrinen aus.
»Das ist nicht dein richtiges Zimmer, oder?«, frage ich
Nicholas.
»Nein. Aber ich halte mich fast ausschließlich hier auf.«
»Was ist es?«
»Mein Museum.« Er lacht leise, fast verlegen. »So hab ich es
jedenfalls genannt, als ich damit angefangen habe, all diese
Dinge zu sammeln.«
»Wann war das?«
»Als ich neun oder zehn war. Viele Sachen habe ich aus dem
Internat nach Hause geschickt.«
Seit er mich in das Zimmer gewinkt hat, hat Nicholas sich
nicht von der Stelle gerührt. Er hat die Tür hinter sich
geschlossen und verfolgt jede meiner Bewegungen. Ich gehe
vor einer der Vitrinen in die Hocke, betrachte den Inhalt der
Fächer, stehe wieder auf und begutachte das Regal.
»Waren deine Eltern schon mal hier?«
»Die interessiert das nicht. Mein Vater hält es für
Kinderspielereien, meine Mutter für einen Tick. Ich schätze, sie
fürchtet um meine geistige Gesundheit.« Nicholas verzieht den
Mund. »Wahrscheinlich seit sie festgestellt hat, wie schnell die
einem abhanden kommen kann.«
»Und was machst du mit den Sachen? Siehst du sie dir jeden
Tag an, oder was? Wie jemand, der Briefmarken sammelt?«
»Ich denke mir Geschichten dazu aus.«
»Geschichten? Zu so etwas?«
Ein ganzes Regalbrett ist förmlich überschwemmt von
unzähligen Knöpfen in allen Farben und Größen, die aussehen
wie vom Meer an den Strand gespülte Muscheln. Es gibt eine
ganze Armee von Schlüsseln in allen Formen und Größen und
Legierungen, Dutzende von Kämmen aus Schildpatt, Metall
oder Plastik, die Zinken gesäubert, teils abgebrochen, und eine
riesige Sammlung von Schreibgeräten: Wachsmalkreiden,
Bleistifte, Buntstifte, Kugelschreiber. Ich entdecke mindestens
fünf Füllfederhalter darunter – keine Billigausgaben, wie sie
von Schülern benutzt werden, sondern Stücke, denen man
ansieht, dass sie sehr teuer waren. Zwei von ihnen sind
vergoldet.
Nicholas greift nach einem der vergoldeten Füller. »Es
beginnt damit, dass du dich fragst, was für ein Mensch das ist,
der einen solchen Federhalter benutzt. Hat er ihn selbst gekauft?
Ist der Füller ein Geschenk oder vielleicht ein Erbstück? Hat
sein Besitzer ihn gestohlen? Warum ist er golden und nicht
silbern, und wann und warum ist hier«, er zeigt auf eine
winzige, zersplitterte Stelle auf der Schutzkappe, »der Lack
abgesprungen?«
Seine Begeisterung ist verhalten, eher spürbar als sichtbar. Ich
könnte ihn am Boden zerstören, wenn ich jetzt lachte oder mich
amüsiert zeigte.
Nicholas deutet auf die vier Vitrinen. Jede von ihnen hat neun
Fächer. Jedes der Fächer beherbergt einen einzelnen
Gegenstand. Sechsunddreißig Fächer, drei Dutzend daran
geknüpfte Geschichten. »Wirklich interessant sind aber nur die
Einzelstücke«, erklärt er. »Ich weiß, dass ein Knopf unter
Umständen spannendere Geschichten erzählt als so etwas«,
seine Finger gleiten über ein kleines, verblichen blaues und
rotes Schiffchen, einen Minidampfer aus Plastik, »aber das
Alltägliche bietet einfach weniger Reiz.«
»Es gibt Leute, die würden dir da widersprechen.«
»Und du?«
»Man muss das nicht so verbissen sehen, oder?«
Ich betrachte das Plastikschiffchen und frage mich, ob
Nicholas alte Gegenstände gegen neue, interessantere

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