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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Königreich lebte einst ein Uhrmacher. Der
König hatte das Land schon regiert, seit Menschen sich erinnern
konnten, und er würde es auch dann noch regieren, wenn die
Welt keine Menschen mehr brauchte. Daher befahl der Regent
dem Uhrmacher, ihm eine Uhr zu fertigen – eine Taschenuhr,
mit deren Hufe man die Ewigkeit messen konnte.
Da saß der Uhrmacher also vor seiner Werkbank, auf der
Viertelrohr und Zeigerwelle, Ankerrad und Federhausbrücke,
Zentralsekunde und Lagersteine, Unruh und Minutentrieb sich,
mit Bauteilen zum Messen der Ewigkeit, die noch niemand
benannt hatte, ein glänzendes Stelldichein gaben, und seine
geschickten Finger fügten ein jedes Teil zum anderen. Viele
Tage und Nächte arbeitete er ohne Unterlass, dann war das
Werk vollbracht. Es schimmerte und tickte, und der Uhrmacher
war es zufrieden. Es blieb ihm nur noch, einen gläsernen Deckel
am Uhrenkörper zu befestigen, doch jetzt war der Uhrmacher
müde, die Augen fielen ihm zu vor Erschöpfung, und so schlief
er ein.
Als er erwachte, fand er sich auf einer weißen, spiegelglatten
Fläche wieder, die sich, so weit das Auge zu blicken vermochte,
in alle Richtungen erstreckte. Und wie man im Traum weiß,
dass man sich an einem Ort befindet, der unmöglich existieren
kann, und diesen Ort dennoch fraglos akzeptiert, so wunderte
sich auch der Uhrmacher nicht darüber, dass es das emaillene
Ziffernblatt der Taschenuhr war, auf das es ihn verschlagen
hatte. Sieh, da drehte sich ihm auch schon ein Zeiger entgegen,
ein einzelner, schwarzer Zeiger, der in seinem ganz eigenen
Takt tickte und sich schnell von der Stelle bewegte.
Und wie jeder Traum die ihm innewohnende Notwendigkeit
dem Schlafenden vermittelt, so wusste auch der Uhrmacher,
was seine Aufgabe war: dem Zeiger zu folgen. Nur wenn er den
Zeiger einholte und sich rittlings auf ihn schwang, würde er in
Eintracht mit der Zeit leben.
Schon setzte der Uhrmacher sich in Bewegung. Doch kaum
hatte er die ersten Schritte getan, da überfiel ihn ein tiefer
Schrecken: Es war ihm ja ganz unmöglich, seine eigene Position
im Verhältnis zu der des Zeigers auszumachen! Denn ob er
selbst sich vor oder hinter dem Zeiger aufhielt, war weniger
eine Frage des räumlichen Abstandes als eine der zeitlichen
Definition. Befand sich der Zeiger dicht hinter dem Uhrmacher,
so mochte der Uhrmacher einen zeitlichen Rückstand von einer
oder mehreren Runden haben, und der Zeiger, den es
einzuholen galt, befand sich in Wirklichkeit vor ihm. Lag
jedoch der Vorsprung beim Uhrmacher, so mochte der den
Zeiger geradewegs vor sich sehen und wusste doch, dass jetzt
der Zeiger den Vorsprung wettzumachen hatte, sich also hinter
ihm befand.
All das war höchst verwirrend. Auch hatte der Uhrmacher, da
der Zeiger sich in steter, zur Verfolgung oder zum Davonlaufen
mahnenden Bewegung befand, weder Rast noch Ruhe, über
dieses Problem nachzudenken, denn er befand sich in ständiger
Eile. Und wie um ihn zu verspotten, schwang nun auch noch der
Zeiger herum und kam ihm entgegen, so dass selbst der
Uhrzeigersinn jetzt gar keinen Sinn mehr machte.
So blieb dem Uhrmacher nichts anderes, als weiter und weiter
über das Ziffernblatt zu hetzen, mal in diese und mal in jene
Richtung und dann wieder im Kreise, ganz wie ein
aufgescheuchtes Kaninchen auf der Flucht vor dem Fuchs. Die
geringste Bewegung, so überlegte der Uhrmacher irgendwann,
als Erschöpfung und Schwindelgefühl kaum noch zu ertragen
waren, müsse wohl im Zentrum des Ziffernblattes herrschen,
auf der Achse des unerbittlich rotierenden Zeigers. Ja, nach dort
wollte er sich gleich auf den Weg machen, dort wollte er
ausruhen.
Wie überrascht war der Uhrmacher, als er sein Ziel erreichte
und dort, auf der Achse des Zeigers, ein kleines, noch dazu
beschriebenes Stück Papier fand! Fünf Worte waren es, die
darauf standen, fünf Worte, zusammengestellt aus so winzigen
Buchstaben, dass man sich kaum vorstellen konnte, wo auf der
Welt es eine so dünne Feder geben sollte, sie damit zu
schreiben. Nun, mochte es nicht sein, dass der Verfasser der
Worte keine Feder, sondern ein Haar zum Schreiben benutzt
hatte? Doch dann wiederum: Gab es ein Lebewesen mit solch
feinen, dünnen Haaren?
SO HABEN WIR NICHT GEWETTET
     
las der Uhrmacher mit zusammengekniffenen Augen.
Kaum aber war der letzte Buchstabe entziffert und die fünf
    Worte gelesen, da stellte der Mechanismus der Uhr seine Arbeit
ein. Der Zeiger blieb stehen, und der

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