Andreas Steinhofel
Uhrmacher fühlte sich von
einem heftigen Wind ergriffen und davongerissen, als der letzte
Bruchteil der letzten verstreichenden Sekunde ihn verschluckte.
Keiner weiß, was aus ihm wurde, denn er verschwand für
immer in der Zeit und ward nicht mehr gesehen.
Der König des Reiches aber wartete vergebens auf die
Erfüllung seines Willens.
Nicholas lächelt, als ich ihm die Blätter zurückgebe,
vermutlich, weil es mir selbst jetzt noch nicht gelingt, die Falten
zu vertreiben, die sich während des Lesens in meine Stirn
geschlichen haben. »Das ist gut«, sage ich zögernd. »Ich meine,
es ist gut geschrieben, aber… also, ehrlich gesagt, verstehe ich
kein Wort davon.«
»Es gibt auch nichts zu verstehen.«
Er legt die Blätter auf den Stapel von Papieren zurück, der
sich auf dem Schreibtisch erhebt.
»Sind die anderen Geschichten auch so…?« Ich will
kompliziert sagen, verkneife es mir aber, obwohl es sicher nicht
mehr darauf ankommt. Ich muss längst den Eindruck eines
Idioten hinterlassen haben.
»Du hast die abstrakteste von allen erwischt. Die meisten sind
eher abgefasst wie Märchen oder so etwas.«
»Tut mir Leid, wenn…«
Nicholas winkt ab. Auf seine knappe Handbewegung hin
scheint das Licht im Raum sich zu verringern, als hätte eine
Wolke sich vor die Sonne geschoben. Er lässt mich nicht aus
den Augen, während er langsam sein Hemd aufknöpft. Ich
verfolge die Bewegungen seiner abwärts gleitenden Hände.
SO VERGEHT DER HERBST. Nicholas behält seinen Job in
der Bücherei weit über Frau Hebelers Urlaub hinaus, nachdem
er der Stadtverwaltung angeboten hat, an zwei Nachmittagen in
der Woche die Bibliotheksbestände neu zu sortieren und zu
katalogisieren. Das ist nur ein Teil der Zeit, die uns verloren
geht. Noch mehr Zeit widmet Nicholas dem Laufen auf dem
menschenleeren Sportplatz oder indem er querfeldein
irgendwelchen Feldwegen folgt. Ich würde ihn gern öfter
treffen.
Eines Tages fährt er mit einem roten Sportwagen in Visible
vor, Leihgabe seines Vaters. Er winkt und öffnet mir die
Beifahrertür, ich springe lachend hinein, klappe das Verdeck
zurück, und Nicholas grinst und zündet sich eine Zigarette an,
die erste und einzige, die ich ihn je rauchen sehe. Wir holen Kat
zu Hause ab, lassen die Stadt hinter uns und brausen über
abgelegene Landstraßen durch den späten Herbst, der sich in
flammendes Orange und himmelndes Blau auflöst. Es ist einer
dieser Tage, an denen die Welt wie zum letzten Mal tief und
warm durchatmet, bevor sie sich resigniert dem Winter
überlässt. Wir legen ungezählte Kilometer zurück, sattes
Motorendröhnen füllt die Luft, das Radio plärrt, die Räder
sirren auf dem Asphalt. Kat trägt ein buntes, im Fahrtwind
flatterndes Kopftuch und eine viel zu große Sonnenbrille.
Abwechselnd umarmt sie Nicholas und mich von hinten, und
ständig lacht sie und kreischt, besonders dann, wenn Nicholas
auf gerader Strecke seine Hände vom Lenkrad nimmt. Im
Rückspiegel oder wenn wir uns zu ihr umdrehen, sehen wir ihre
auseinander strebenden Schneidezähne, so dass wir, als wir
abends zu Hause ankommen, in den Ohren ein einziges
Rauschen, den hellen, betrunkenen, erschöpften Tag zum Tag
der Zahnlücke erklären.
In der Schule achtet Nicholas darauf, Kat und mir nicht mehr
Zeit zu widmen als seinen zahlreichen Bewunderern. Sind wir
zu dritt und unbeobachtet, schenkt er Kat ebenso viel Beachtung
und Aufmerksamkeit wie mir. Es ist, als würde er jedes Mal,
wenn er sich mit uns unterhält, wenn wir miteinander lachen
oder reden über Gott und die Welt, in seinem Inneren eine
Lochkarte stanzen, die er ständig überprüft, um auch jedem von
uns gerecht zu werden. Nicholas und Kat verstehen sich
glänzend. Er berührt mich nur, wenn wir zu zweit sind.
Inzwischen ist es zu einer fixen Idee geworden, ihn vor allen
Leuten zu umarmen und zu küssen.
Tereza und Pascal fahren gemeinsam für ein paar Wochen
nach Holland. Für einen Sommerurlaub hatte Tereza keine Zeit,
jetzt wird das verlorene Vergnügen nachgeholt. Sie schickt uns
eine Postkarte von der Küste, wo sie und Pascal in einer
gemütlichen kleinen Pension untergeschlüpft sind. Zwischen
Herbst und Winter unternehmen sie lange Spaziergänge an
verwaisten Sandstränden, trotzen eiskaltem Regen, Stürmen und
Küstennebel. Wir essen gut und Pascal wird fett, schreibt
Tereza. Ich werde sie einrahmen und als dreidimensionales
Gesamtkunstwerk à la Rubens verkaufen.
Michael
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