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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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ist jetzt so häufig zu Gast in Visible, dass mir seine
Anwesenheit nicht mehr auffällt, während seine Abwesenheit
mich fast nervös macht. Der Rechtsstreit, in den er verwickelt
war, wird zu seinen Gunsten entschieden. Immer wieder spricht
Michael davon, wie sehr die Architektur Visibles ihn
beeindruckt – wenn es sein Haus wäre, würde er keinen Deut
daran verändern. Bei langen Erkundungsgängen entdeckt er
Ecken und Winkel, die selbst mir bisher verborgen geblieben
waren, und er freut sich wie ein kleiner Junge, als Glass ihn
eines Tages mit den Entwurfszeichnungen für das Haus
überrascht, die sie nach einer stundenlangen staubigen
Suchaktion im Keller in einem der Millionen dort gestapelter
Kartons gefunden hat. Ich finde es kaum nachvollziehbar, wie
sehr Michael Visible liebt, und warte gespannt auf den Winter,
wenn Glass ihn tonnenweise Holz hacken lassen wird, um die
zugigen Mauern zu beheizen. Ich mag seine ruhige, bedachte
Art. Er spielt leidenschaftlich gern Schach und versucht, mich
dafür zu begeistern. Mir gefallen die handgeschnitzten, strengen
Schachfiguren, das symmetrische Gegeneinander von Schwarz
und Weiß, aber das Spiel selbst ist mir zu hoch. Ich bin unfähig,
weiter als zwei Züge vorauszudenken, und wir geben den
Versuch rasch auf, mehr zu Michaels Bedauern als zu meinem.
Glass blüht unter dem seltsamen Zauber, von dem ich noch
immer glaube, dass Michael ihn auf sie ausübt, zusehends auf.
Es ist ein stilles, leuchtendes Blühen, man kann es wahrnehmen,
wenn man sie nur aus dem Augenwinkel heraus sieht oder wenn
man den Blick auf sie richtet, ohne ihn scharf zu fokussieren.
Sie ist glücklich. Manchmal läuft sie leise summend durch das
Haus und vollführt dabei unerwartet ein, zwei kleine
Tanzschritte. Dann wieder sitzt sie, an einem der wenigen
Abende, die sie jetzt noch ohne Michael verbringt, in eine
Wolldecke gewickelt auf der viel zu kalten Veranda und lächelt
scheinbar grundlos in die Weltgeschichte. Die nervöse, sich in
Rastlosigkeit oder hektischem Geplapper ausdrückende Energie,
die sie begleitet hat, seit ich mich erinnern kann, fällt von Tag
zu Tag mehr von ihr ab. Für ihre Kundinnen, an die ich nie
denke, ohne zugleich Gables schreckliche Narbe vor mir zu
sehen, hat Glass immer seltener Zeit. Die arme Rosella mit
ihrem abgebrochenen Ohr und dem schrägen Grinsen setzt eine
immer dicker werdende Staubschicht an. Der Regentag, auf den
Glass jahrelang gespart hat, scheint in weite Ferne gerückt.
Dianne signalisiere ich oft genug, dass ich bereit bin, mit ihr
zu reden, wenn ihr danach ist. Sie macht keinen Gebrauch
davon. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie selbst sich
auch nicht für meine Belange interessiert. Einmal sehe ich durch
die zufällig offen stehende Tür in ihr Zimmer, wo sie auf dem
Bett sitzt. Ihr Rücken ist durchgedrückt und kerzengerade. Sie
bewegt ihre Hände umeinander, auf dieselbe Art, wie ich es in
jener Vollmondnacht auf dem Polizeirevier beobachtet habe.
Dort dachte ich an Flammen, die einander umtanzen. Jetzt sieht
es so aus, als bewegen sich die Hände und die Finger, um einen
unsichtbaren Kokon um Diannes Körper zu spinnen, unendlich
langsam, als wäre sie ein Tier, das bereits seine
Stoffwechselvorgänge reduziert hat um sich auf das
Überwintern vorzubereiten.
Nach wie vor unternimmt Dianne, auch bei Wind und Wetter,
ihre endlosen, sie sonst wohin führenden Spaziergänge, und sie
trifft sich auch weiterhin mit Kora. In der Schule sehe ich sie
auf dem Pausenhof mit anderen Mädchen lachen, vielleicht ist
das Koras Einfluss zu verdanken. Vielleicht fährt Dianne auch
noch immer ab und zu mit dem Bus, irgendwohin, vielleicht
schreibt sie weiterhin Briefe an Zephyr, ein Name, der für mich
immer mehr verblasst, so wie die Tinte auf den an ihn
gerichteten Briefen, und vielleicht ist das alles, was sie zum
Glücklichsein braucht.
Zwischen Glass und ihr herrscht nach wie vor Funkstille.
Wenn die beiden aufeinander treffen, beschränken sie sich auf
den Austausch höflicher Floskeln und Unverbindlichkeiten.
Keine von ihnen scheint bereit, auch nur einen Zentimeter an
Boden nachzugeben. Es ist ein Zustand, den ich seit Jahren
kenne. Jetzt beginne ich mich daran zu gewöhnen.
Und dann Nicholas, immer wieder Nicholas… Wenn wir
miteinander allein sind, im Haus von Terezas Vater oder in
Visible, nie wieder in seinem Museum, erzähle ich ihm von
Stella und Glass und Dianne,

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