Andreas Steinhofel
von Tereza und Pascal, was ihn
irgendwann zu der Bemerkung veranlasst, mein Leben sei von
Frauen bestimmt, so etwas könne kein gutes Ende nehmen, es
fehle an männlichem Gegengewicht. Was soll ich darauf
erwidern? Dass ich ihm, einerseits, im Kern Recht gebe und
einen Vater immer vermisst habe, ihn noch heute vermisse, weil
ich spüre, dass Michael vielleicht noch zur rechten Zeit für
Glass, aber zu spät für Dianne und mich gekommen ist? Dass
ich andererseits nachvollziehen kann, was Tereza einmal
behauptete, nämlich dass Männer unbrauchbar seien, weil sie
dem Kindsein nie entwachsen, weil sie aus Furcht vor
Verletzungen und aus einer tief sitzenden Angst vor dem Leben
ihre Herzen frühzeitig in Ketten legen und aus diesem selbst
errichteten Kerker heraus ihre Unsicherheit von Generation zu
Generation an ihre männlichen Nachkommen weitergeben?
Eine Unsicherheit, die sie so rastlos macht, dass sie in den
entscheidenden Momenten eines Kinder- oder Frauenlebens
ohnehin nie zu Hause sind, sondern irgendwo dort draußen,
überzeugt davon, Welten erobern zu müssen?
Aus dem vagen Gefühl heraus, Nicholas damit zu verletzen,
behalte ich all das für mich. Stattdessen hole ich weiter aus,
berichte von Kat und von Gable, von verlogenen Ärzten und
messerstechenden, wimpernlosen Kindern, von gottgefälligen
Krankenschwestern und transparenten Bibliothekarinnen. Ich
erzähle von Ufos, die durch Silberbromidnächte geistern, von
dicken, tänzelnden Frauen in rot gelackten Schuhen, die von
Baugruben verschluckt werden, und von Jungen, die die Locken
ihrer toten Mütter als Reliquie verehren.
»Früher hab ich geglaubt, das Schicksal hatte was gegen mich,
weil es in schöner Regelmäßigkeit alle Menschen aus meinem
Gesichtsfeld entfernt hat, an denen mir etwas lag. Annie, Wolf,
Herrn Tröht…«
»Da waren doch noch genug andere, oder?« »Ja, aber die
hätten genauso gut tot sein können.« »Nein, ich meine Glass
und Dianne, Tereza, Kat…« »Die zählen nicht, sie gehören zur
Familie. Mehr oder weniger.«
»Auch deine Familie kann dich verlassen.« »Nein. Nein,
Familie ist für immer.«
Je weiter ich mich ihm öffne, umso mehr liefere ich mich ihm
aus. Je weniger er von sich preisgibt, umso stärker weiß er mich
an sich zu binden. Zum ersten Mal glaube ich die einfache und
gleichzeitig komplexe Dynamik zu verstehen, die sich hinter
Kats Erforschungen ihrer berühmten weißen Seelenlandkarten
verbirgt. Zum ersten Mal verstehe ich, das es Angst ist, die den
Menschen auf Entdeckungsreisen schickt. Wenn ich Nicholas
nicht verlieren will, muss ich ihn ergründen. Das einzige
Geheimnis, das er mir anvertraut hat, ist sein Museum der
verlorenen Dinge. Ich grübele darüber nach, was er mir damit
zeigen wollte, zerbreche mir den Kopf über den verdammten
Uhrmacher und die Ewigkeit, aber ich komme nicht weiter.
Nicholas hat mir einen Schlüssel gegeben, den ich nicht zu
benutzen weiß. Und: Ihn nach weiteren Geschichten zu fragen
würde meine Verwirrung nur vergrößern.
Wenn wir uns treffen, schlafen wir miteinander.
Seine Küsse bleiben seltene, nur zögernd gegebene
Geschenke.
Ich frage ihn nie, ob er mich liebt.
»Du HAST POST BEKOMMEN«, begrüßt mich Dianne, als
ich nach Hause komme. Sie sitzt am Küchentisch und schält
einen Apfel, peinlichst darauf bedacht, die Schale an einem
Stück herunterzukriegen. »Ein Päckchen.«
Es ist später Nachmittag. Schweres, dunkles Grau drückt von
draußen gegen die Fenster. Ich habe Nicholas zur Bibliothek
begleitet, dort eine Weile unter Frau Hebelers immer noch
wachsamem, ansonsten aber längst butterweichem Blick ein
paar Bücherregale durchstöbert und bin dann gegangen. Wenn
Nicholas arbeitet, tut er das genauso konzentriert und ohne die
geringste Aufmerksamkeit für seine Umgebung, wie ich es von
ihm kenne, wenn er läuft.
»Ein Päckchen? Wo ist es?«
»Liegt auf der Treppe in der Halle.«
»Ist es von Gable?«
»Es ist ohne Absender. Aber es sind ganz normale
Briefmarken drauf.«
Gable hat im Sommer auf einem Frachter angeheuert, der
Gewürze durch den Indischen Ozean schippert. In seinem
letzten Brief hat er geschrieben, er wolle versuchen, das
Jahresende bei uns in Visible zu verbringen. Weihnachten ist
nur noch wenige Wochen entfernt, er muss sich beeilen, wenn
er seine Ankündigung wahrmachen will. Vielleicht bringt er
Zimt mit.
»Du hast einen Freund, oder?«, sagt Dianne, ohne ihre
Aufmerksamkeit von der
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