Andreas Steinhofel
sich
nicht von der Stelle. Er hat diese Litanei dutzende Male,
hunderte Male durchprobt, und er wird erst damit aufhören und
schweigen, wenn der letzte Satz und das letzte Wort gesprochen
sind.
»Wenn du dich noch einmal in ihre Nähe wagst…« Die
pathetische Drohung bleibt unausgesprochen. Er wird mich
nicht umbringen, aber er wird sich mit mir prügeln. Ich kann es
mit ihm aufnehmen, sowohl von der Statur als auch von der
bloßen Körperkraft her, doch das ist jetzt nicht wichtig. Zwei
Dinge werden mir klar: Ganz gleich, wie eine Schlägerei
zwischen uns ausginge, Thomas würde mir niemals glauben.
Und die Schlacht am Großen Auge gehört endgültig der
Vergangenheit an. Keine Aura des Heldentums wird mich mehr
schützen, weil es nie wieder Kinder sein werden, die mich
bedrohen. Die Kinder von damals sind erwachsen geworden
und gehören jetzt zu den Kleinen Leuten. Pfeil und Bogen sind
keine adäquaten Waffen mehr gegen sie.
»Ich will nichts von Kat.« Ich mache noch einen Schritt auf
Thomas zu. »Von keiner Frau.«
Meine Hände legen sich auf seine Schultern und spüren
pochende, zitternde Hitze. Wir haben fast dieselbe Größe, ich
muss meinen Kopf nur ganz leicht anheben. Thomas leistet
keinen Widerstand. Seine Lippen sind fest und warm. Ich kann
hören, wie ungleichmäßig die Zeit verrinnt, sie hat den
trommelnden Takt meines Herzschlags angenommen. Thomas
bewegt sich nicht. Ich dränge nach, presse mich dichter an ihn,
öffne seine Lippen mit meiner Zunge, stoße damit fordernd
gegen seine Zähne, taste sie ab. Hunger schießt wie ein
Sturzbach durch meinen Körper. Ich könnte in Thomas
ertrinken, ich könnte ihn verletzen. Für die Dauer eines
Augenflackerns schiebt sein Unterkörper sich mir entgegen,
vielleicht ist es nur eine instinktive Bewegung, obwohl ich
spüren kann…
Dann zerbricht der Moment.
»Verstehst du?«, flüstere ich.
Thomas stößt mich heftig von sich. Ich falle nach hinten und
stoße mit der linken Hüfte gegen das Lehrerpult. Schmerz
flammt auf.
»Dafür zahlst du, du Drecksau!«
Er stapft wütend davon, stößt mit der Schulter gegen den
Türrahmen, als er den Raum verlässt. Es ist, als würde alle
Farbe aus den rundum aufgehängten Bildern und Postern von
den Wanden herabfließen, sich zu einem Strom vereinigen und
ihm folgen. Zurück bleibt Schwarz und Weiß. Von meiner
linken Hüfte aus wandert Schmerz in kleinen, sich brechenden
Wellen in alle Richtungen. Ich wische mir mit dem Handrücken
über die Lippen und schließe die Augen. Es sollte ein Ende
gewesen sein, aber es fühlt sich an wie ein Anfang.
Als ich die Augen öffne, steht Wolf vor mir. Mein Herz macht
einen schmerzhaften Sprung. Es ist, als würde es rückwärts
schlagen, nur dieses eine Mal. Nur um mich daran zu erinnern,
wie verletzlich ich bin, dass es anders kann, aufhören kann zu
schlagen, wenn es sich dazu entscheidet. Mit Thomas konnte
ich umgehen. Vor Wolf habe ich Angst.
Sein Gesicht ist markanter geworden in den vergangenen
Jahren, die Mundpartie ist ausgeprägter und die Lippen sind
voller, als ich sie in Erinnerung habe. Doch sonst hat sich nichts
verändert. Die wilden, strohblonden Haare, die ich damals so
gern berührt hätte, scheinen noch immer keine Bürste zu
kennen, die ihre Schönheit zügeln könnte; den graublauen
Augen fehlt nach wie vor jeder Ausdruck von Lebendigkeit –
sie leuchten weder kalt noch warm, sie verbergen alles und
halten doch nichts zurück. Diese Augen, die ich nur einmal habe
weinen sehen, sind nicht mehr als eine indifferente
Zusammensetzung aus Glaskörper und Pupille, Iris und
Netzhaut. Das macht sie so unheimlich. Mit diesen Augen hat
Wolf alles gesehen.
»Ich hab alles gesehen.«
O ja, das hat er. Er hat alles, alles gesehen. Ich lausche dem
Satz nach. Wolf hat ihn gesagt, wie ein Kind ihn sagen würde,
unsicher, trotzig, drohend. Gleich wird er hinzufügen: Und ich
werde es allen erzählen. Und plötzlich spüre ich ein Lachen in
mir aufsteigen, weil mich der Gedanke überfällt, dass ich
danach dieses Spiel unendlich oft wiederholen muss. Dass alle
Jungen aus der Schule nacheinander vor mir antreten werden,
um sich küssen und davon überzeugen zu lassen, dass der für sie
größte denkbare Schrecken keine Einbildung ist, kein Trugbild,
das in durchwachten, überhitzten, sorgenvollen Nächten vor
ihnen aufsteigt, dass sie mich als Lackmuspapier benutzen
werden um festzustellen, in welche Richtung
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