Andreas Steinhofel
schmucklose weiße Postkarte.
Phil,
das gehört dir. Ich habe dich doch gesehen, damals im Winter:
Nicholas
Vermutlich werde ich ihn nie richtig verstehen. Ich zerreiße
das Geschenkpapier und halte das Kästchen aus nussfarbenem
Holz in meinen Händen. Ich klappe den elfenbeinverzierten
Deckel auf und drehe es auf den Kopf.
Es leuchtet weiß, es flammt rot, es schneit, es brennt.
Meine Schneekugel fällt mir entgegen.
SEIN KLEINER WEISSER FREUND
HÄNDEL WEISS SEINE BELIEBTHEIT gnadenlos
auszunutzen. Er ist der einzige Lehrer, der sich kategorisch
weigert, nach Beendigung des Unterrichts das von ihm an der
Tafel hinterlassene Kreidegekrakel selbst zu entfernen. Für
diese Arbeit verpflichtet er lieber einen seiner dankbaren
Schüler – im heutigen Fall mich.
Der feuchte Schwamm huscht über die Tafel und löscht
Formeln und Zeichen aus, die in meinen Augen eher
ägyptischen Hieroglyphen gleichen als mathematischen
Aussagen. Ich bin allein im Kursraum. Als hinter mir Schritte
ertönen, drehe ich mich nicht um. Ich halte nur mit dem
Tafelwischen inne und lächele, weil ich denke, dass Kat oder
Nicholas, die mich auf dem Pausenhof erwarten, ungeduldig
geworden und zurückgekommen sind.
Das Profil, das sich von der Seite in mein Blickfeld schiebt
und mir das Lächein aus dem Gesicht treibt, gehört keinem der
beiden. Es gehört Thomas. Er starrt mich lange schweigend an.
Weiß der Teufel, welcher Schauspieler aus einem
zweitklassigen Film ihn damit irgendwann beeindruckt hat. Ich
warte eine Weile, dann atme ich tief durch.
»Was willst du?«
Sein Zeigefinger fährt über die Tafel und zieht ein schmales,
durchgehend helles Band auf dem dunkelgrünen, noch nicht
getrockneten Untergrund. Die leuchtende Spur wirkt wie eine
Vergrößerung der rasiermesserscharfen Linie, zu der Thomas
seine Lippen zusammengepresst hat.
»Lass die Finger von Katja.«
Ich könnte Überraschung heucheln, aber ich bin kein guter
Schauspieler. Ich würde eine klägliche Vorstellung abliefern,
die Thomas nur als Bestätigung seiner Eifersucht interpretieren
würde. Das wenige, was ich über ihn weiß, habe ich von Kat
erfahren. Er ist nicht dumm, aber er ist auch keine
Intelligenzbestie. Er gehört zu den Menschen, denen ein einmal
gefasster Gedanke eine solche Sicherheit gibt, dass sie ihn nur
ungern wieder fallen lassen, selbst dann nicht, wenn sie schon
längst bemerkt haben, dass er in eine völlig falsche Richtung
weist.
»Ich hab Kat nie angerührt«, sage ich in seine Richtung und
nehme das Tafelwischen wieder auf. »Aber vermutlich könnte
ich mir alle Finger abhacken und du würdest es trotzdem nicht
glauben.«
»Stimmt.«
»Wir sind Freunde, Thomas. Hast du das Wort schon mal
gehört? Wir kennen uns, seit wir fünf Jahre alt sind. Da ist
nichts. Und jetzt lass mich in Ruhe, okay?«
»Vergiss es.«
»Und ob ich das vergesse.« Ich lege den Schwamm ab. »Ich
gehe nämlich jetzt.«
»Du bleibst hier und hörst mir zu.«
»Den Teufel werde ich tun.« Ich mache einen Schritt auf ihn
zu. Er weicht keinen Millimeter zurück. »Ich bin die falsche
Adresse, kapierst du das nicht? Wenn du was von Kat willst,
dann geh gefälligst zu ihr.«
»Sie behandelt mich wie Dreck.«
»Kann sein, aber das ist nicht mein Problem und hat mit mir
auch nichts zu tun.«
»Es hat alles mit dir zu tun.«
Ich sehe in seine starren Augen. Ich kenne diesen Blick, und
ich bilde mir auch ein, den Schmerz zu kennen, der sich
dahinter verbirgt. Es gab Männer, die ihre Seele in Visible
verloren hatten und wochenlang keinen Versuch unterließen, sie
zurückzuholen. Sie schrieben seitenlange Briefe, sie ließen Tag
und Nacht das Telefon Sturm klingeln. Sie bettelten und sie
drohten. Sie lauerten Glass auf, wenn sie morgens das Haus
verließ und wenn sie abends von der Arbeit kam. Einige schrien
und tobten, einige weinten, die meisten sahen einfach aus wie
verletzte Tiere. Sie stellten meiner Mutter nach wie Jäger, ohne
zu begreifen, dass sie selbst die Beute waren, längst erlegt und
vergessen; vielleicht konnten sie es nicht begreifen, weil ihre zu
Tode verletzten Herzen noch schlugen und sich anfühlten wie
rohes Fleisch. Ein paar dieser Männer bekam ich zu Gesicht.
Und sie hatten alle diesen Blick.
»Ich weiß nicht, was sie an einem Waschlappen wie dir
findet«, sagt Thomas mit rauer Stimme. »Aber ich will euch
nicht mehr zusammen sehen.«
»Dir wird gar nichts anderes übrig bleiben.« Er bewegt
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