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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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sondern beobachtet sie, während sie spricht, um seine
Mundwinkel diesen feinen, kaum zu deutenden Zug aus
Zurückhaltung, Amüsiertheit und einem winzigen Schuss
Arroganz. Ich frage mich, ob Kat ihm auch von seiner Akte
erzählt hat.
»Das Radio«, verkünde ich halbherzig. »Soll ich einen
Klassik-Sender suchen, vielleicht -«
»Einstöpseln, anmachen!«, kommandiert Kat, und ich kann
nicht nachempfinden, was daran so witzig sein soll, dass man
sich deshalb vor Lachen über die Matratze rollt.
Dann ploppt der erste Korken und donnert gegen die
Zimmerdecke, es schäumt und sprudelt aus der Flasche, unsere
Gläser klirren aneinander. All meine Bedenken verschwinden
unter dem Einfluss des Champagners. Die erste Flasche leeren
wir unter Lobpreisungen auf Kats Vater, den edlen,
unfreiwilligen Spender, die zweite unter Lobpreisungen auf uns
alle, das Leben und den Erfinder der winzigen prickelnden
Perlen im Champagner. Ab der dritten Flasche bin ich erfüllt
von Glückseligkeit und einem seltsam tauben Gefühl, das sich
in meine Lippen krallt und langsam über das ganze Gesicht
ausbreitet, das dann halsabwärts wandert und durch die Arme in
meine Hände strömt, die plötzlich nicht mehr genau wissen, was
sie tun.
»Winterurlaub«, sagt Kat irgendwann. »Diesmal, wer hätte
das… gedacht, die beschissenen Alpen!«
»Auf die Alpen!«
Das Radio dudelt, wir singen mit, lauthals bei den letzten
Sommerhits, melancholisch bei den Stücken, die jeder von uns
seit Jahr und Tag kennt, ohne zu wissen, wann oder wo er sie
zum ersten Mal gehört hat. Irgendwann schaltet der Sender
endgültig auf Weichspüler um.
»Wisst ihr, ich hab mir überlegt«, murmelt Kat, die letzte,
längst geleerte Champagnerflasche in der Hand, »jedenfalls
werd ich mir, ich werde mir die Haare färben. Das Blond hängt
mir zum Hals raus!«
Sie grinst. Ihr Mund ist zu groß im Vergleich zu sonst, aber
vielleicht täusche ich mich auch und es sind ihre Augen, die
wären dann zu… klein, aber die Haarfarbe finde ich ganz okay.
»Blond steht dir aber.«
»Ich will Schwarz.«
»Du wirst aussehen wie Paleiko.«
»Die Haare, du Idiot, ich will mir ja nur die Haare färben und
nicht den ganzen, weißt schon, Körper oder was… Wo ist die
alte Puppe überhaupt?«
Nicholas zeigt auf das Regal. Er tragt einen weißen Pullover,
und als er seinen Arm durch die Luft bewegt, bleibt eine helle
Leuchtspur hinter ihm zurück. Ich überlege, ob ich ihm je von
Paleiko erzählt habe, eine Überlegung, die sehr müde macht und
Unmengen Zeit in Anspruch nimmt, denn in meinem nächsten
wachen Moment sehe ich Kat bereits singend mit Paleiko im
Arm durch das Zimmer wirbeln.
»Tanze, mein Püppchen, tanze…!«
»Lass ihn nicht fallen, Kat.«
»Warum bist du so schwarz, Paleiko?«
»Sei vorsichtig, ja?«
»Und warum heißt du überhaupt…«
»Kat!«
»… Paleiko?«
Eben noch befindet sich Paleiko an Kats Brust, gegen die sie
ihn beim Tanzen eng gedrückt hält wie ein schutzloses,
schlafendes Kind, im nächsten segelt er durch die Luft,
überschlägt sich ein einziges Mal, und zerschellt auf dem Boden
in tausend schwarze Scherben.
»Zu spät«, sagt Nicholas neben mir.
Zu UNSEREM NEUNTEN GEBURTSTAG erhielt Dianne
von Tereza eine Puppe, die man pinkeln lassen und der man die
langen blonden Haare frisieren konnte. Ich bekam einen
Fußball. Ich unternahm gar nicht erst den Versuch, meine
Enttäuschung zu verbergen. Ein Fußball war mit Abstand das
dümmste, nutzloseste Geschenk auf Erden, das ich mir
vorstellen konnte. Eine Weile hoffte ich, Tereza hätte irrtümlich
die Geschenke vertauscht, denn eine Puppe hätte ich geliebt.
Aber es blieb bei der vorgenommenen Verteilung. Ich bebte vor
unterdrücktem Zorn und Entrüstung. Selbst der Anblick der
Geburtstagstorte, einem süßen Wunderwerk, auf das Tereza vor
unseren Augen bunte Liebesperlen wie einen Meteorschauer
niederregnen ließ, konnte mich nicht besänftigen. Ich weigerte
mich, meine neun Kerzen auszublasen.
Dem Geburtstag waren Wochen, wenn nicht Monate
vorausgegangen, in denen ich mich immer öfter durch Glass
beobachtet gefühlt hatte. Manchmal spürte ich ihre Blicke auf
mir lasten wie ein feines, aber eben doch wahrnehmbares
Gewicht. Mir fiel auf, dass Glass mich nur in ganz bestimmten
Situationen musterte: wenn ich in der Küche den Tisch deckte,
wenn ich Diannes und mein Zimmer aufräumte, das mir ewig
unordentlich erschien, oder wenn ich mir bis an die

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