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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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die Farbskala
ausschlägt, wenn ihr Speichel sich mit meinem vermischt hat,
um herauszufinden, ob auch sie es sind: Aussatz.
»Hat er dir wehgetan, Phil?«
»Ja.«
Wolf hebt eine Hand und streichelt mir damit über die Wange.
Sein Atem riecht nach Pfefferminz. Es gibt nichts, das mich von
seinem leeren Blick erlösen könnte. Keine Gewalttätigkeit von
Thomas hätte schlimmer sein können als diese kühle, sanfte
Berührung.
»Gut«, sagt Wolf lächelnd. »Das ist gut.«
    KAT WAR SCHON IMMER eine eifrige Verfechterin der
Ansicht, dass es zum Feiern keines besonderen Anlasses bedarf.
Am Samstagabend stehen sie und Nicholas Arm in Arm vor
Visible. Kat hat drei dickbauchige Flaschen Champagner aus
dem gut sortierten Weinkeller ihrer Eltern mitgehen lassen, eine
für jeden von uns.
    »Kalt hier«, bemerkt Nicholas in der Eingangshalle. Sein
Finger fährt durch die Luft und zerschneidet eine kleine
Kondenswolke, die sein Atem dort hinterlassen hat.
    »Ich weiß. Man müsste den halben Wald abholzen, um das
Haus komplett zu beheizen.«
Wir haben Visible für uns. Glass hat sich von Michael dazu
überreden lassen, das gesamte Wochenende bei ihm zu
verbringen. Für sie, die nie länger als eine Nacht von Visible
fortgeblieben ist und ansonsten ihre Männer lieber zu sich holte,
ist das eine Premiere. Für Michael kann ich nur hoffen, dass er
weiß, worauf er sich da eingelassen hat. Dianne hat sich
freundlichst von mir verabschiedet, bevor sie zu Kora
losgezogen ist, bei der sie übernachtet. Als sie ging, war sie so
gut gelaunt und gelöst, dass ich schon mit dem Gedanken
spielte ihr nachzurufen, es sei für ein Bad im Fluss inzwischen
zu kalt.
Nicholas hält mir eine Plastiktasche entgegen. »Hier.«
»Was ist das?«
»Teelichter.« Er lacht und streicht sich mit einer Hand die
schwarzen Haare aus der Stirn. »Hundert Stück.«
»Wow!«
»Wo sind die Sektkelche?«, fragt Kat.
»Sehr witzig.«
Wir nehmen ehemalige Senfgläser aus der Küche mit nach
oben. In meinem Zimmer stellen wir die Teelichter auf die
Fensterbänke, verteilen sie entlang der Wände und gruppieren
sie zu kleinen Inseln auf dem Parkettboden. Sie haben den
angenehmen Nebeneffekt, das Zimmer aufzuheizen, und
nehmen mir so die Aufgabe ab, mich um den widerspenstigen,
immer unregelmäßig brennenden Kachelofen kümmern zu
müssen. Der November eilt seinem nebeltrüben Ende entgegen,
nachts fallen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt.
Morgens, beim Erwachen, fällt mein erster Blick auf die
Frostblumen, die an den Innenseiten meiner Fenster blühen. In
den Nachrichten wird angekündigt, dass ein früher, eisiger
Winter bevorsteht.
Kat klatscht wie ein kleines Kind begeistert in die Hände, als
alle Teelichter entzündet sind. Das Flackern der Kerzen spiegelt
sich in den Fensterscheiben, das Zimmer gleicht einem
schimmernden, wogenden Lichtermeer. Nicholas sieht sich
suchend um.
»Hörst du hier eigentlich nie Musik?«
»Nur Radio, in der Küche beim Frühstück.«
»Ich hätte meine Geige mitbringen können«, kichert Kat.
»Du spielst Geige?«, fragt Nicholas anerkennend. »Wirklich
beeindruckend. Dann kennst du sicher das Zweite Violinkonzert
von Brahms, es ist…«
Ich laufe nach unten in die Küche und hole den Radiorecorder.
Ich verliere keine Zeit damit, im Treppenhaus das Licht
anzumachen, auf dem Rückweg folge ich einfach Kats lautem
Lachen. Um ein Haar falle ich deshalb die Stufen hinauf. Wenn
ich nur einen Moment innehielte, würde ich vielleicht darüber
nachzudenken beginnen, warum ich mich so beeile. Noch dazu
sinnlos beeile, denn meine Gedanken holen mich trotzdem ein.
Ich bin eifersüchtig auf Kat.
Das abstreiten zu wollen wäre müßig. Mir gefällt die
Vertrautheit nicht, die sich zwischen ihr und Nicholas
entwickelt hat und die sich am besten in der Art ausdrückt, wie
die beiden Arm in Arm vor der Tür gestanden haben. Mir gefällt
auch Kats Lachen nicht, aus dem einfachen Grund, weil
Nicholas es so unbefangen erwidert. Mir schießt durch den
Kopf, wie oft sie gelacht hat in letzter Zeit, wenn wir drei
zusammen waren. Ich tue das Gefühl als albern ab, nur um es
mir umso mächtiger entgegenschwappen zu spüren, als ich mein
Zimmer betrete und die beiden nebeneinander auf der Matratze
sitzen sehe. Kat erzählt etwas von irgendwelchen Mitschülern –
zweifellos hat sie mal wieder die vertraulichen Akten ihres
Vaters studiert – und Nicholas hört ihr zu. Hört ihr nicht nur zu,

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