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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Umschlag,
der sich fest anfühlt, wahrscheinlich enthält er eine Karte.
Schließlich der schwerste und größte Teil des Päckchens, ein in
buntes Geschenkpapier geschlagenes Etwas von der Größe einer
Frühstücksbox. Auf ein leichtes Schütteln ertönt ein Klappern
aus der Box. Ich muss an ineinander verschachtelte russische
Püppchen denken. Ich halte mich an die Reihenfolge, in der das
Päckchen bepackt war, und lese zuerst den
maschinengeschriebenen Text.
VITRINE l
     
UNTERSTES FACH
    VON DEN DREI SCHWESTERN
Es waren drei ungleiche Schwestern, die lebten zusammen in
einem sehr alten Haus. Das Haus war umgeben von einem
dunklen Garten, und der Garten war umgeben von einem hohen
Zaun. Hinter dem Zaun aber herrschte ein Krieg, von dem
niemand wusste, wann er begonnen hatte, noch ob er je enden
würde.
So verschieden die drei Schwestern waren, so waren sie doch
auch eins, und keine der drei konnte von den anderen lassen.
Seufzte die jüngste, so taten die mittlere und die älteste es ihr
gleich; schloss die älteste die Augen, so fielen auch die mittlere
und die jüngste in den Schlaf.
Nun kam es, dass es die mittlere Schwester drängte die Welt
zu sehen. Jeden Tag ging sie hinauf auf den Dachboden, wo sie
sehnsüchtig aus einem der ins Dach gelassenen Fenster
hinaussah, auf die Welt hinter dem Zaun und auf das Leben
jenseits des Krieges.
Dort will ich hin, sagte sie zu ihren Schwestern.
Dann geh, sagte die jüngste.
Nein, bleib, sagte die ältere.
Es stand ein Webrahmen auf dem Dachboden. An den setzte
sich die mittlere Schwester, verschloss ihre Lippen und begann,
weil sie zwischen Gehen und Bleiben nicht entscheiden konnte,
mit der Arbeit an einem Teppich. Faden um Faden und Farbe
um Farbe webte und wirkte sie ineinander, unermüdlich sauste
das Weberschiffchen durch ihre Hände, und der Teppich wurde
immer größer und immer prächtiger, denn alles Wünschen und
Wollen der mittleren Schwester drangen tief in den Stoff, und
während sie webte, kam kein Wort über ihre Lippen.
Doch die jüngste Schwester lockte und flüsterte: Geh hinaus,
nimm dir, wonach du dich sehnst! Was wirkst du diesen
Teppich, wenn doch alles, wonach du begehrst, dort draußen
vor der Tür und hinter dem Zaun auf dich wartet? Aber die
älteste widersprach und mahnte: Bleib hier, denn hier bist du
sicher und geborgen, doch dort draußen erwartet dich der Tod.
Siehst du nicht den Morast, der den Garten überschwemmt, die
tödlichen Speere und Lanzen, die hinter dem Zaun auf dich
warten?
So saßen sie auf dem Dachboden, uneins darüber, was zu tun
sei, und die Luft war erfüllt von schmeichelndem Flüstern, von
drohendem Wispern, und vom Schweigen der Weberin.
Die Zeit verging. Tage wurden zu Nächten und Nächte zu
Tagen, und der Sommer ging ins Land und wich dem Herbst.
Und noch immer sprachen die ältere und die jüngere auf die
webende Schwester ein, und dabei verloren sie an Lebenskraft,
wurden immer schwächer und merkten es nicht.
Doch weil ein jedes Weben und Wirken ein Ende hat, so war
schließlich auch der Teppich fertig und strahlte so hell und so
schön, heller als die Sonne, glänzender als der Mond und
funkelnder als die Sterne. Da betrachtete die mittlere der
Schwestern ihre wunden Hände und was sie mit ihnen
erschaffen hatte, und endlich öffnete sie die Lippen, und sie
sagte: Jetzt ist es gut.
Eine einzige Träne löste sich aus ihrem Auge und fiel zu
Boden. Und wo sie aufkam, benetzte sie den Rand des
Teppichs, und im Sterben sahen die drei Schwestern, wie der
Teppich in Flammen aufging, entzündet von dieser einzigen
Träne.
Schon loderte ein Feuer. Schnell griff es um sich, denn es war
ein magisches Feuer, es verzehrte das Haus von oben nach
unten, und seine Flammen waren nicht warm, sondern kalt. Sie
ergriffen die drei sterbenden Schwestern und verwandelten sie
in lodernde, schweigende Fackeln, nichts blieb von ihnen als
drei Häufchen eisige Asche. Ein Wind kam auf, fuhr wirbelnd
in die Asche, bis sie eins war, und trug sie davon. Doch die
Flammen des Feuers flackerten weiter, sie brannten und
loderten, sie züngelten und suchten und fraßen. Drei Tage lang
sah man sie von nah und fern, orange und rot schlugen sie aus
dem Dachstuhl und aus den Fenstern.
Und draußen schneite es, denn der Winter hatte Einzug
gehalten ins Land.
Ich betrachte, ohne sie anzufassen, die in Geschenkpapier
geschlagene Schachtel. Dann greife ich nach dem
Briefumschlag. Er enthält eine

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