Andreas Steinhofel
Stadt?«
»Er ist vor zwei Jahren gestorben. Hat sich totgesoffen.«
»Oh.«
»Muss dir nicht Leid tun«, sagt der Junge nüchtern. »Der Typ
war ein echter Wichser. Saufen, prügeln, weitersaufen. Mir tat
es auch nicht Leid, keinem von uns.«
»Du hast Geschwister?«
»Einen Bruder und eine ältere Schwester.«
Ich setze mich ihm gegenüber an den Tisch. Vielleicht sollte
ich ihm Kaffee oder Tee anbieten, aber das Anfeuern des Ofens
hat mich meine letzten Energiereserven gekostet. Ich habe
tagelang wie tot im Bett gelegen, jetzt bin ich völlig erledigt.
»Hast du deinen Vater noch mal gesehen, nachdem ihr
umgezogen wart?«, frage ich.
»Ein einziges Mal. Da war ich zwölf oder dreizehn. Bin sogar
abgehauen, um zu ihm zu fahren. Komisch, oder, wo er uns
doch das Leben so zur Hölle gemacht hatte?« Er betrachtet
seine feingliedrigen Hände, als hätte er ihnen diese Frage
gestellt oder als hätten sie etwas mit der Hölle oder seinem
Vater zu tun. »Jedenfalls, als ich ankam, da war er so besoffen,
dass er mich erst gar nicht erkannt hat. Und irgendwann fing er
an zu heulen und schrie rum, meine Mutter sei eine Nutte und
so. Und ich hab mich gefragt: Wer will so einen Arsch als
Vater?«
Seltsam, dass ich bis jetzt noch nie daran gedacht habe: Dass
Nummer Drei, wenn ich ihm je begegnet wäre, sich
möglicherweise nicht als der ersehnte große Heilsbringer und
wunderbare Vater, sondern als Schläger, Trinker oder
Vergewaltiger entpuppt hätte, als einer jener Männer also, von
denen Glass’ Kundinnen in der Regel nur mit leisen Stimmen
sprachen wie von schlafenden Ungeheuern, die man allein
dadurch zu wecken droht, dass man ihren Namen in den Wind
flüsterte.
»Eigentlich müsste ich mich bei deiner Mutter bedanken«,
fährt der Junge fort. »Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir
nie den Absprung geschafft.«
»Ich dachte, sie hätte damals nur mit der Mutter vom Brocken
geredet.«
»Der Brocken?« Die Stirn über den grünen Augen legt sich in
Falten. »Ach, der, ja. So haben ihn manche genannt.«
»Weißt du, was aus ihm geworden ist?«
»Keine Ahnung. Jedenfalls, unsere Mütter, deine und meine,
die haben schon miteinander geredet. Sonst wäre es ja nicht so
weit gekommen für uns, mit Abhauen und so.«
»Und jetzt hast du extra den langen Weg auf dich genommen,
um…«
»Nein.« Der Junge schüttelt den Kopf. »Meine Mutter besucht
eine Freundin. Ich bin einfach mitgefahren.«
Ein Schweigen entsteht, das ich mit Fragen füllen würde,
wenn mir nur welche einfielen. Aus dem Ofen ertönt leises
Knacken und Knistern und das fauchende Geräusch von durch
den Kamin abziehender Wärme. Dem Jungen muss die
befremdliche Situation noch unangenehmer sein als mir – ich
habe wenigstens den Heimvorteil. Trotzdem atme ich erleichtert
auf, als ich das Klappern eines Schlüssels höre und kurz darauf
Schritte sich der Küche nähern. Dann steht Dianne in der Tür.
»Du hast Besuch, Dianne. Das ist…«
Der Junge ist aufgestanden. Plötzlich wirkt er wieder so
verlegen wie in dem Moment, als ich ihm die Haustür öffnete.
»Dennis«, sagt er.
Dianne kneift die Augen zusammen und steht für einige
Sekunden einfach da, den Kopf leicht schräg gelegt, die
Wangen gerötet vom Laufen durch die Kälte. Schließlich nickt
sie, als hätte sie soeben die Antwort auf eine Frage gefunden,
die sie seit Ewigkeiten beschäftigt hat.
»Dennis«, wiederholt sie.
»Ich wollte mich bei -«
»Weißt du was, Dennis?«, unterbricht ihn Dianne. Sie geht auf
ihn zu, wirft ihre Tasche auf einen Stuhl und stützt sich mit
beiden Händen auf den Tisch. Ihr Gesicht verharrt so nah vor
dem des verschreckten Jungen, dass eine winzige weitere
Vorwärtsbewegung ausreichen würde, um ihn zu küssen. »Ich
hätte dich damals abgestochen, wenn ich mein eigenes Messer
dabeigehabt hätte.«
Dianne tritt zurück. Ich sehe Dennis an und er sieht mich an,
aus seinen hellen grünen Augen, und von mir schaut er zu
Dianne, und von ihr zurück zu mir. Die Hexenkinder. Und dann
brechen wir alle, auch Dianne, in lautes Lachen aus.
AM FREITAGVORMITTAG holt Nicholas mich in Visible
ab. Er schlägt vor in Richtung Sportplatz zu gehen, und ich
trotte ihm widerspruchslos nach. Wir überqueren die Brücke zur
Stadt, unmittelbar hinter der Brücke, auf der Seite der Kleinen
Leute, biegen wir nach links auf einen Spazierweg ab. Der
kurvenreiche Weg führt auf fast einem Kilometer Länge am
Fluss entlang, er streift
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