Andreas Steinhofel
im
Gegensatz zu ihm, über ihre Gründe spricht, doch das hat sie nie
getan. Ich fühle mich in die Enge getrieben und gehe schneller.
Nicholas fasst mich am Arm. »Phil, was macht es für einen
Unterschied, ob ich dich liebe oder nicht? Ich mag dich. Wir
kommen gut miteinander aus. Wir verbringen viel Zeit
miteinander. Wir haben guten Sex.«
Ich bleibe stehen und schüttele ihn ab. »Ich will mehr als
das.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass du mir vertraust.«
»Das tue ich.«
»Nein, das tust du nicht! Du sprichst nicht über dich, nicht
wirklich. Ich weiß nicht, was in dir vorgeht, eigentlich weiß ich
gar nichts über dich.«
»Es gibt nichts zu wissen.«
»Tatsächlich? Hast du schon versucht, das Kat zu erklären?
Sie wird sich noch weniger als ich damit zufrieden geben, nur
mit dir ins Bett zu steigen! Und noch weniger Lust wird sie
dazu haben, dich mit mir zu teilen. Früher oder später wirst du
dich für einen von uns beiden entscheiden müssen.«
Nicholas schüttelt den Kopf. »Ich mag euch beide. Das ist
keine Frage der Entscheidung.«
»Für mich schon. Und wenn du sie nicht treffen kannst, muss
ich es eben tun.«
Ich wende mich von ihm ab und stapfe weiter. Rechts von mir
weichen die Hecken auseinander und öffnen sich auf eine kleine
Wiese. An den Rändern stehen, dicht an dicht, verschneite
Obstbäume. Ein Teil der Bäume wurde im Sommer gefällt, am
Ende der Wiese ist das Holz zu einem hohen Stoß
aufgeschichtet worden. Ich merke erst, dass Nicholas mir nicht
mehr folgt, als ich das Geräusch seiner Schritte neben meinen
vermisse. Ich drehe mich zu ihm um. Er steht drei Meter von
mir entfernt in diesem Nichts von Weiß, eine einsame Insel. Er
kommt langsam auf mich zu, vorsichtig, fast so, als befürchte
er, der Schnee unter seinen Füßen könnte nachgeben und der
Boden ihn verschlucken.
»Wie meinst du das?«, fragt er.
»Nicholas, ich will mich bei dir aufgehoben fühlen! Ist das so
schwer zu verstehen? Und ich kann nicht mit jemandem
zusammen sein, der behauptet, mich zu brauchen, aber jederzeit
bereit ist, mich fallen zu lassen. Dafür bin ich mir zu schade.«
»Und was wirst du tun?«
»Gehen. Einfach gehen.«
Er bleibt auf der Stelle stehen. Und da ist es. Für einen kurzen
Augenblick öffnet sich der Panzer, mit dem Nicholas sich
umgibt. Ich sehe es in seinem Blick, der flattert wie ein
aufgescheuchter, völlig verängstigter Vogel. Seine Furcht greift
auf mich über, so heftig, dass meine Knie nachzugeben drohen.
Das schöne, sonst so unbewegte und beherrschte Gesicht ändert
innerhalb von Sekunden mehrfach den Ausdruck, gerade so, als
würden von unsichtbarer Hand in rascher Folge die Masken
griechischer Tragödienspieler übereinander gelegt – die Angst
weicht hilfloser Verzweiflung, kindlichem Erstaunen,
flackerndem Hass.
»Nein«, sagt Nicholas.
Und dann ist der Moment vorüber. Nicholas hat sich wieder
vollkommen unter Kontrolle. Sein Gesicht glättet sich. Was
auch immer es war, das für kurze Zeit an die Oberfläche
gekommen ist, hat sich wieder in die Tiefe zurückgezogen.
Aber es hat alles verändert, es hat mein Herz erst aussetzen und
dann schneller schlagen lassen, und jetzt drängt es mich, all
meine Worte zurückzunehmen. Ich gehe auf Nicholas zu und
strecke eine Hand aus.
»Es tut mir Leid, ich hab das nicht so -«
Hören und Sehen sind eins. Was ich höre, ist ein trockenes
Knacken, als wäre irgendwo ein Ast unter der Last auf ihm
ruhenden Schnees gebrochen. Was ich sehe, ist das rechte Auge
von Nicholas, das sich oberhalb der Pupille öffnet, bevor sein
Kopf wie von einem unsichtbaren Schlag getroffen zur Seite
gerissen wird und er in den Schnee stürzt.
Er schreit. O Gott, er schreit so laut, dass der Himmel davon
aufreißen und die Erde sich öffnen müsste. Und über sein
Schreien hinweg höre ich Worte, die ich schon einmal gehört
habe, vollzieht das Leben einen schrecklichen Zirkelschluss.
Plötzlich rieche ich den nahen Fluss, es ist Sommer, die Luft
duftet nach Algen und Pestwurz, und irgendwo blitzt und
schimmert es rosig und silbern, als eine Regenbogenforelle
durch das schäumende Wasser unter dem Großen Auge
davonschießt.
»Der ist…«
»Ohhh…«
»Weg hier!«
Nicholas liegt im Schnee, er schreit und presst beide Hände
vor sein rechtes Auge. Ich falle vor ihm auf die Knie.
»Lass mich das – Nicholas! Nimm die Hände weg!«
»Nahhhh…!«
»Nicholas, lass mich das sehen!«
Da ist kaum Blut, nur
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