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Andreas Steinhofel

Andreas Steinhofel

Titel: Andreas Steinhofel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Mitte der Welt
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Schrebergärten und ein paar einzeln
stehende Häuser. Der Himmel ist bedeckt, es ist einer dieser
trüben Wintertage, die zwischen Morgengrauen und
Abenddämmerung verloren gehen, weil es an ihnen nie richtig
hell wird.
    Irgendwann verlässt Nicholas den ausgetretenen Pfad und
stapft durch das unter Schnee begrabene, abgeknickte Gras. Er
erzählt von seiner Verwandtschaft, oberflächliche, unaufgeregte
kleine Geschichten, die völlig an mir vorbeigehen. Ich höre ihn
neben mir reden, und aus dem Nichts heraus überkommt mich
für einen Moment das Gefühl, mich von mir zu lösen und über
uns zu schweben, mit all meinen Sinnen die ganze nähere
Umgebung zu erfassen – ich spüre die Leere in den nach Kreide
riechenden Räumen der Schule, sehe neben dem
Kriegerdenkmal am Marktplatz einen Tannenbaum mit einer
traurigen, elektrischen Lichterkette emporragen, höre das
Rascheln, mit dem das UFO durch ein Fotoalbum blättert, in
dem sie Bilder ihres Mannes betrachtet, betaste das Eis, das von
beiden Seiten des Flusses aufeinander zu wächst, schmecke den
Zucker auf gebrannten Mandeln, die ein Mann an einem Stand
vor dem Supermarkt in rosafarbene Papiertüten packt.
    »Mit anderen Worten«, schließt Nicholas, »meine ganze
Familie besteht aus langweiligen reichen Leute, die zur
Weihnachtszeit zwanghaft aufeinander hocken und
ununterbrochen reden, reden und reden, damit sie nicht Gefahr
laufen, sich während all der vielen feiertagsbedingten
Mußestunden ihrer Nutzlosigkeit bewusst zu werden.«
    »Wenn sie so langweilig sind, warum fährst du sie dann
besuchen?«
»Es wird erwartet.«
Der Satz duldet keinen Widerspruch. Mir fällt ein, dass
Nicholas, als wir uns vor einigen Wochen stritten, etwas in der
Art erwähnt hat, dass er auf seine Eltern aufpassen müsse. Ich
spreche ihn nicht noch einmal darauf an.
Wir kommen an Annie Glössers verwaistem Haus vorbei, das
seit Jahren langsam verfallt. Es wirkt verwunschen wie das
Hexenhäuschen aus einem Märchen. Schnee drückt auf das
Dach, zwei Fensterläden stehen offen. Sie hängen schief in den
Angeln, die Scheiben dahinter sind zertrümmert. Ich stelle mich
vor den Zaun und betrachte den weißen Garten, in dem in jedem
Sommer ganze Heerscharen wilder Rosen wuchern, Rosen so
rot wie Annies Schuhe. Plötzlich sehne ich mich nach dieser
verrückten dicken Frau wie nach nichts sonst auf der Welt. Und
von einem auf den anderen Moment erscheint mir nichts
leichter, als in ein Taufbecken zu spucken oder Nicholas
entgegenzutreten. Es fällt mir nur schwer, ihn dabei anzusehen.
Ich versenke die Hände in den Manteltaschen und starre in das
Schwarz hinter den eingeschlagenen Fensterscheiben.
»Ich hab gesehen, dass du mit Kat geschlafen hast.«
»Du hast… Was?«
»Ich hab dir nicht nachspioniert«, füge ich schnell hinzu. »Es
ist einfach passiert.«
»Dasselbe könnte ich auch sagen.«
»Was?«
»Dass es einfach passiert ist«, sagt Nicholas langsam. »Das
zwischen Kat und mir.«
»Liebst du sie?«
»Nein.«
»Liebst du mich?«
Ich wage immer noch nicht, ihn anzusehen. Meine Worte sind
einer eigenen, ebenso nüchternen wie unbarmherzigen Logik
gefolgt: Sie haben sich zwangsläufig aus den vorangegangenen
ergeben. Jetzt sind sie gesagt, hängen mit einem stillen
Vibrieren in der Luft und lassen sich nicht mehr zurücknehmen.
»Ich brauche dich«, erwidert Nicholas neben mir. »Aber ich
liebe dich nicht.«
»Das ist armselig.«
»Nein, es ist ehrlich.«
»Und überaus praktisch, oder? Beruhigt wahrscheinlich das
Gewissen, nachdem man sich an Menschen bedient hat wie an
dem Krempel in der Auslage eines Gemischtwarenladens.«
Meine Beine sind weich geworden. Wenn ich mich nicht
bewege, werde ich hinfallen oder mich übergeben. Ich drehe
mich um und gehe los, folge dem Verlauf der Hecken, deren
Nähe Schutz und Sicherheit verspricht. Nicholas stolpert mir
nach.
»Was ist der Unterschied zwischen sich lieben und sich
brauchen, Phil? Wer sagt dir, dass das, was du für mich
empfindest, Liebe ist? Wie kannst du dir so sicher sein? Und
verdammt, wie kannst du mich so selbstgerecht verurteilen!
Nach allem, was du mir erzählt hast, macht deine Mutter auch
nichts anderes als ich.«
»Glass hat ihre Gründe.«
»Jeder hat Gründe für sein Tun.«
Ich wünschte, mich mit dem Gedanken beruhigen zu können,
dass er sich nur hinter rhetorischen Spitzfindigkeiten versteckt.
Ich wünschte, ihm entgegnen zu können, dass Glass,

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